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Die Fotos hatten seine Aufmerksamkeit erweckt, aber der Name der Frau hielt ihn fest.

GESUCHT WEGEN MORDES SUSAN EDWINA DAY stand in großen schwarzen Buchstaben am oberen Rand. Und unter den simulierten Fahndungsfotos, in Rot:

BLEIB AUS UNSERER STADT WEG!

Ganz unten auf dem Plakat stand noch eine Zeile Kleingedrucktes. Ralphs Nahsicht hatte seit Carolyns Tod ziemlich nachgelassen - war mit Pauken und Trompeten zum Teufel gegangen wäre vielleicht ein zutreffenderer Ausdruck gewesen -, daher mußte er sich nach vorne beugen, bis seine Stirn die schmutzige Scheibe von Secondhand Rose, Secondhand Clothes berührte, bevor er sie entziffern konnte:

Mit Unterstützung des Maine Life-Watch Komitees.

Weit hinten in seinem Kopf flüsterte eine Stimme: Hey, hey, Susan Day! How many kids did you kill today?

Susan Day, fiel Ralph wieder ein, war eine politische Aktivistin entweder aus New York oder aus Washington, eine Frau mit schneller Zunge, die Taxifahrer, Friseure und Bauarbeiter mit Helmen regelmäßig zum Wahnsinn trieb. Aber er konnte nicht sagen, warum ihm gerade dieser spezielle Knittelvers in den Sinn gekommen war; er erinnerte ihn an irgend etwas, das ihm nicht einfallen wollte. Vielleicht wandelte sein Verstand einfach nur den alten Protestspruch aus den sechziger Jahren ab, der gelautet hatte: Hey, hey, LBJ! How many kids did you kill today?

Nein, das ist es nicht, dachte er. Nahe dran, aber kein Treffer. Es war...

Kurz bevor sein Gehirn den Namen Ed Deepneau aushusten konnte, sagte eine Stimme fast unmittelbar hinter ihm: »Erde an Ralph, Erde an Ralph, bitte kommen, Ralphie-Baby!«

Ralph wurde aus seinen Gedanken geschreckt und drehte sich um. Er stellte erschrocken und amüsiert fest, daß er fast im Stehen eingeschlafen war. Herrgott, dachte er, man weiß nie, wie wichtig Schlaf ist, bis man keinen mehr bekommt. Dann kippt auf einmal der Boden, und alle Ecken werden irgendwie rund.

Es war Hamilton Davenport, der Inhaber von Back Pages, der ihn angesprochen hatte. Er bestückte den Bibliothekswagen, den er vor seinem Geschäft stehen hatte, mit Taschenbüchern in grellen Umschlägen. Die alte Maiskolbenpfeife - für Ralph hatte sie immer wie der Schlot eines Modellbaudampfers ausgesehen - steckte in seinem Mundwinkel und stieß kleine Wölkchen blauen Rauchs in die heiße, klare Luft aus. Winston Smith, sein alter grauer Kater, saß in der offenen Tür des Geschäfts und hatte den Schwanz um die Pfoten gewickelt. Er sah Ralph mit gleichgültigen gelben Augen an, als wollte er sagen: Du glaubst, daß du weißt, wie es ist, alt zu sein? Ich bin hier, um dir zu beweisen, du hast keinen blassen Schimmer, wie es ist, alt zu sein.

»Mann, Ralph«, sagte Davenport. »Ich muß deinen Namen mindestens dreimal gerufen haben.«

»Ich schätze, ich war geistesabwesend«, sagte Ralph. Er ging an dem Bibliothekswagen vorbei, lehnte sich an den Türrahmen (Winston Smith behielt seinen Platz mit königlicher Gleichgültigkeit bei) und nahm die beiden Zeitungen, die er jeden Tag kaufte: den Boston Globe und USA Today. Dank Pat, dem Zeitungsjungen, wurde die Derry News direkt ins Haus geliefert. Er erzählte den Leuten manchmal, daß er eine der drei Zeitungen nur zur Erheiterung las, aber er hatte sich nie entscheiden können, welche das war. »Ich habe in...« Er verstummte, als ihm Ed Deepneaus Gesicht einfiel. Von Ed hatte er das garstige kleine Lied im letzten Sommer gehört, draußen am Flughafen, und es war kein Wunder, daß er eine Weile gebraucht hatte, bis er die Erinnerung ausgegraben hatte. Ed Deepneau war der letzte Mensch auf der Welt, von dem man so etwas erwartete.

»Ralphie?« sagte Davenport. »Du hast gerade wieder abgeschaltet.«

Ralph blinzelte. »Oh, entschuldige. Ich habe in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen, wollte ich sagen.«

»Scheißspiel... aber es gibt schlimmere Probleme. Trink ein Glas warme Milch und hör dir eine halbe Stunde, bevor du ins Bett gehst, ruhige Musik an.«

Ralph hatte allmählich festgestellt, daß jeder in Amerika offenbar ein Privatrezept gegen Schlaflosigkeit hatte, eine Art Schlafzauber, der seit Generationen weitergereicht wurde wie die Familienbibel.

»Bach ist gut, Beethoven, und William Ackerman ist auch nicht schlecht. Aber der wahre Trick...« Davenport hob beschwörend einen Finger, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »... besteht darin, während dieser halben Stunde nicht vom Sessel aufzustehen. Um nichts auf der Welt. Geh nicht ans Telefon, zieh den Hund nicht auf und laß den Wecker nicht raus, komm nicht auf die Idee, dir die Zähne zu putzen... nichts! Und wenn du dann ins Bett gehst... bumm! Weg wie nichts!«

»Und wenn man in seinem Lieblingssessel sitzt und plötzlich feststellt, daß einen die Natur ruft?« fragte Ralph. »Das kann ziemlich schnell gehen, wenn man in meinem Alter ist.«

»Dann mach in die Hose«, antwortete Davenport ohne mit der Wimper zu zucken und fing an zu lachen. Ralph lächelte, aber mehr aus Pflichtgefühl. Seine Schlaflosigkeit war mittlerweile kein bißchen spaßig mehr für ihn. »In die Hose!« prustete Harn. Er schlug auf den Bibliothekswagen und schüttelte den Kopf.

Ralph sah auf die Katze hinunter. Winston Smith erwiderte den Blick gelassen, und für Ralph schienen die ruhigen gelben Augen zu sagen: Ja, er ist ein Trottel, aber er ist mein Trottel.

»Nicht schlecht, hm? Hamilton Davenport, der Meister der schlagfertigen Antwort. Mach in die...« Er schnaubte wieder vor Lachen, schüttelte den Kopf und nahm die beiden Dollarscheine, die Ralph ihm entgegenstreckte. Er steckte sie in die Tasche seiner kurzen roten Schürze und gab etwas Wechselgeld heraus. »Kommt das hin?«

»Auf jeden Fall. Danke, Harn.«

»Hm-hmm. Spaß beiseite, versuch das mit der Musik. Es funktioniert wirklich. Glättet die Hirnwellen oder sowas.«

»Mach ich.« Und das Vertrackte daran war, er würde es wahrscheinlich ausprobieren, so wie er schon Mrs. Rapaports Zitrone-und-heißes-Wasser-Rezept und Shawna McClures Rat probiert hatte, wie er sein Denken klären könnte, indem er seine Atmung verlangsamte und sich auf das Wort cool konzentrierte (nur wenn Shawna das Wort aussprach, hörte es sich wie cuhhhh-ooooooooooool an). Wenn man es mit einer langsamen, aber unbarmherzigen Erosion seines gesunden Schlafs zu tun hatte, sah jedes Hausmittel gut aus.

Ralph wollte sich abwenden, überlegte es sich dann aber anders. »Was ist mit diesem Plakat nebenan?«

Harn Davenport rümpfte die Nase. »Dan Daltons Laden? Da schau ich überhaupt nicht rein, wenn es sich vermeiden läßt. Verdirbt mir den Appetit. Hat er etwas Neues und Ekelerregendes im Schaufenster?«

»Ich glaube, es ist neu - es ist nicht so vergilbt wie die anderen, und außerdem ist kaum Fliegendreck darauf. Sieht aus wie ein Steckbrief, aber das Plakat zeigt Susan Day.«

»Susan Day auf einem - verflucht!«Er warf einen finsteren, humorlosen Blick auf das Geschäft nebenan.

»Was ist sie, Präsidentin der National Organization of Women, oder so?«

»Ex-Präsidentin und Gründerin von Sisters in Arms. Autorin von Der Schatten meiner Mutter und Lilien im Tal - das ist eine Studie über geprügelte Frauen, und warum so viele sich weigern, die Männer zu verpfeifen, die sie prügeln. Ich glaube, dafür hat sie den Pulitzerpreis gewonnen. Susie Day ist augenblicklich eine der drei oder vier politisch einflußreichsten Frauen in Amerika, und sie kann auch so gut schreiben, wie sie denkt. Dieser Clown weiß, daß ich eine ihrer Petitionen gleich neben der Ladenkasse liegen habe.« »Was für Petitionen?«

»Wir versuchen, sie zu einem Vortrag hierherzuholen«, sagte Davenport. »Du weißt doch, daß die Recht-auf-Leben-Fraktion letztes Weihnachten einen Bombenanschlag auf Woman-Care versucht hat, oder?«