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»Wie die Auren«, sagte Ralph.

»Ja, wie...« Ihre Stimme bebte. Ralph sah hinüber und erblickte Tränen, die ihre pausbäckigen Wangen hinunterliefen. »... wie die Auren.«

»Nicht weinen, Lois.«

Sie fand ein Kleenex in der Handtasche und wischte sich damit die Augen ab. »Ich kann nicht anders. Das japanische Wort auf der Karte bedeutet Kamikaze, oder nicht, Ralph? Göttlicher Wind.« Ihre Lippen bebten. »Selbstmordpilot.«

Ralph nickte. Er hielt das Lenkrad ganz fest umklammert. »Ja«, sagte er. »Das bedeutet es. Selbstmordpilot.«

Route 33 - die in der Stadt Newport Avenue genannt wurde führte in einem Abstand von vier Blocks an der Harris Avenue vorbei, aber Ralph hatte nicht die Absicht, ihrer langen Fastenzeit an der West Side ein Ende zu bereiten. Der Grund dafür war so einfach wie zwingend: Er und Lois konnten es sich nicht leisten, von ihren alten Freunden gesehen zu werden, da sie fünfzehn oder zwanzig Jahre jünger aussahen als am Montag.

Hatten irgendwelche dieser alten Freunde sie bei der Polizei schon als vermißt gemeldet? Ralph wußte, es wäre möglich, verließ sich aber darauf, daß sie zumindest in seinem Kreis noch keine allzu große Aufmerksamkeit erregt hatten; Faye und die anderen, die auf dem Picknickplatz an der Extension herumhingen, wären zu sehr damit beschäftigt, über den Verlust von nicht nur einem, sondern zwei Mitgliedern der Airvorderen zu trauern, als sich zu fragen, wohin sich Ralph Roberts mit seinem hageren alten Arsch abgesetzt haben mochte.

Bill und Jimmy könnten mittlerweile beide Totenwache, Trauergottesdienst und Beerdigung hinter sich haben, dachte er.

»Wenn du sicher bist, daß wir Zeit für ein Frühstück haben, Ralph, dann solltest du so schnell wie möglich ein Restaurant suchen - ich bin so hungrig, daß ich en Pferd mit Haut und Haaren verspeisen könnte!«

Sie waren jetzt fast eine Meile westlich vom Krankenhaus - weit genug, daß sich Ralph einigermaßen sicher fühlen konnte -, und er sah das Derry Diner vor ihnen auftauchen. Er und Carolyn hatten ein paarmal dort zu Mittag gegessen, und es war nicht so übel. Als er blinkte und auf den Parkplatz abbog, überlegte er sich, daß er seit Carolyns Krankheit nicht mehr hier gewesen war... ein Jahr mindestens, wahrscheinlich länger.

»Da sind wir«, sagte er zu Lois. »Und wir werden nicht nur essen, wir werden soviel essen, wie wir können. Heute kommen wir vielleicht nicht mehr dazu.«

Sie grinste wie ein Schulkind. »Da hast du gerade eines meiner größten Talente angesprochen, Ralph.« Sie rutschte ein wenig auf dem Sitz hin und her. »Außerdem muß ich für kleine Mädchen.«

Ralph nickte. Sie hatten seit Dienstag nichts gegessen, und auf dem Klo gewesen waren sie auch nicht. Lois konnte ruhig für kleine Mädchen; er würde in die Herrentoilette stürmen und ganz doll für große Jungs gehen.

»Komm mit«, sagte er, machte den Motor aus und brachte so das beunruhigende Ticken unter der Haube zum Verstummen. »Zuerst das Klo, dann das große Fressen.«

Auf dem Weg zur Tür sagte sie ihm (mit einer Stimme, die Ralph für eine Spur zu beiläufig hielt), daß sie nicht glaubte, Mina oder Simone hätten sie schon als vermißt gemeldet, jedenfalls noch nicht. Als Ralph den Kopf drehte und nach dem Grund fragte, stellte er zu seinem Erstaunen und seiner Erheiterung fest, daß sie errötete.

»Weil sie beide wissen, daß ich schon seit Jahren in dich verknallt bin.«

»Ist das ein Witz?«

»Selbstverständlich nicht«, sagte sie und hörte sich ein wenig verschnupft an. »Carolyn wußte es auch. Manche Frauen hätte es gestört, aber sie wußte, wie harmlos es war. Wie harmlos ich war. Sie war so ein Schatz, Ralph.«

»Ja. Das war sie.«

»Wie dem auch sei, sie werden wahrscheinlich vermuten, daß wir... du weißt schon...«

»Uns auf ein Schäferstündchen verdrückt haben?«

Lois lachte. »So was in der Art.«

»Würdest du dich gerne mit mir auf ein Schäferstündchen verdrücken, Lois?«

Sie stellte sich auf Zehenspitzen, knabberte kurz an seinem Ohrläppchen, und da geschah etwas Erstaunliches: Er war innerhalb von Sekunden hart wie eine Eisenstange. »Wenn wir das hier lebend überstehen, frag mich noch mal.«

Er gab ihr einen Kuß auf den Mundwinkel, bevor er die Tür aufstieß. »Worauf du dich verlassen kannst.«

Sie gingen auf die Toilette, und als Ralph wieder zu ihr kam, sah Lois nachdenklich und ein wenig erschüttert aus. »Ich kann nicht glauben, daß ich es bin«, sagte sie. »Ich meine, ich muß mich mindestens zwei Stunden im Spiegel angesehen haben, und ich kann es immer noch nicht glauben. Die Krähenfüßchen um meine Augen herum sind verschwunden, und Ralph... mein Haar...«Ihre dunklen spanischen Augen sahen funkelnd und staunend zu ihm auf. »Und du! Mein Gott, ich bezweifle, daß du mit vierzig so gut ausgesehen hast.«

»Habe ich auch nicht, aber du hättest mich mit dreißig sehen sollen.«

Sie kicherte. »Komm schon, du Kindskopf, setzen wir uns und vernichten ein paar Kalorien.«

»Lois?«

Sie sah von der Speisekarte auf, die zusammen mit mehreren anderen zwischen Salz- und Pfefferstreuer gesteckt hatte.

»Als ich auf der Toilette war, habe ich versucht, die Auren zurückkommen zu lassen. Diesmal konnte ich es nicht.«

»Warum wolltest du es, Ralph?«

Er zuckte die Achseln, weil er ihr nichts von dem Gefühl der Paranoia erzählen wollte, das ihn überkommen hatte, als er in der kleinen Toilette stand, sich die Hände wusch und sein seltsam jugendliches Gesicht in dem wasserfleckigen Spiegel betrachtete. Plötzlich war ihm der Gedanke gekommen, er könnte nicht allein da drinnen sein. Schlimmer, Lois hätte nebenan in der Damentoilette nicht allein sein können. Möglicherweise schlich sich Atropos an sie an, völlig unsichtbar, mit an seinen winzigen Ohrläppchen baumelnden Diamantohrringen und ausgestrecktem Skalpell...

Aber statt Lois' Ohrringen oder McGoverns Panama hatte Ralphs geistiges Auge das Springseil heraufbeschworen, das Atropos benützt hatte, als Ralph ihn (drei-sechs-neun, die Gans trank Wein) auf dem leeren Baugrundstück zwischen der Bäckerei und dem Bräunungsstudio entdeckt hatte, das Springseil, das einmal kostbarer Besitz eines kleinen Mädchens gewesen war, das beim Fangenspielen in der Wohnung stolperte, im ersten Stock aus dem Fenster fiel und sich das Genick brach (was für ein schrecklicher Unfall, sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, wenn es einen Gott gibt, warum läßt er so etwas zu, und so weiter, und so fort, ganz zu schweigen von bla-bla-bla).

Er sagte sich, daß er damit aufhören sollte, daß es schon schlimm genug sei, auch wenn er sich keine grausamen Bilder ausmalte, wie Atropos Lois' Ballonschnur durchschnitt, aber das half nichts... zumal er wußte, Atropos könnte sich tatsächlich hier bei ihnen im Restaurant aufhalten, das Springseil in einer und das rostige Skalpell in der anderen Hand, und er könnte mit ihnen anstellen, was er wollte. Einfach alles.

Lois streckte die Hand über den Tisch aus und strich ihm über den Handrücken. »Keine Bange. Die Farben werden wiederkommen. Sie kommen immer wieder.«

»Wahrscheinlich.« Er nahm sich selbst eine Speisekarte, schlug sie auf und ließ den Blick über das Frühstücksangebot schweifen. Sein erster Eindruck war, daß er von allem etwas wollte.

»Als du zum erstenmal gesehen hast, daß Ed sich wie ein Verrückter aufgeführt hat, kam er vom Flughafen von Derry«, sagte Lois. »Jetzt wissen wir, warum. Er hat Flugstunden genommen, nicht?«