Выбрать главу

Einfache Entscheidungen - zum Beispiel ob er sich ein tiefgekühltes Fertiggericht auftauen oder sich im Red Apple ein Sandwich holen und zum Picknickplatz an der Startbahn 3 gehen sollte - wurden schwierig, fast quälend. In den vergangenen zwei Wochen war er immer häufiger mit leeren Händen von Dave's Video Stop zurückgekommen, aber nicht, weil er bei Dave nichts fand, das er sehen wollte, sondern weil es zuviel gab - er konnte sich nicht entscheiden, ob er einen der Dirty Harry-Filme, eine Komödie mit Billy Crystal oder ein paar der alten Folgen von Raumschiff Enterprise sehen wollte. Nach ein paar erfolglosen Ausflügen war er in seinen Sessel gefallen und hatte vor Frustration fast geweint... und vor Angst, vermutete er.

Die schleichende Lähmung der Sinne und die Erosion seiner Entscheidungsfähigkeit waren aber nicht die einzigen Probleme, die er mit seiner Schlaflosigkeit in Verbindung brachte; sein Kurzzeitgedächtnis ließ ebenfalls deutlich nach. Er ging gewohnheitsmäßig mindestens einmal pro Woche ins Kino, mitunter zweimal, seit er von der Druckerei, wo er als Buchhalter und Mädchen für alles gearbeitet hatte, in den Ruhestand geschickt worden war. Bis letztes Jahr hatte er Carolyn mitgenommen, dann war sie so krank geworden, daß sie sich an nichts mehr erfreuen konnte. Nach ihrem Tod war er meistens alleine gegangen, nur ein- oder zweimal hatte ihn Helen Deepneau begleitet, wenn Ed zu Hause auf das Baby aufpaßte (Ed selbst ging fast nie aus; er behauptete, daß er im Kino Kopfschmerzen bekam). Ralph hatte die automatische Telefonauskunft des Kinos so häufig angewählt, um Anfangszeiten zu erfahren, daß er die Nummer auswendig kannte. Aber im Verlauf des Sommers mußte er sie immer häufiger in den Gelben Seiten nachschlagen - er war nicht mehr sicher, ob die letzten Ziffern 1317 oder 1713 waren.

»Sie sind 1713«, sagte er jetzt. »Ich weiß es.« Aber wußte er es wirklich?

Ruf Litchfield zurück. Los doch, Ralph - hör auf, in den Trümmern zu wühlen. Tu etwas Produktives. Und wenn dir Litchfield tatsächlich so gegen den Strich geht, dann ruf einen anderen Arzt an. Im Telefonbuch stehen mehr Ärzte denn je.

Das stimmte wahrscheinlich, aber mit siebzig war man vielleicht ein bißchen zu alt, um sich einen neuen Knochenflicker nach der Eene-meene-mu-Methode auszusuchen. Und Litchfield würde er nicht zurückrufen. Definitiv.

Okay, was dann, du störrischer alter Bock? Noch ein paar Hausmittel? Ich hoffe nicht, denn bei deinem Verschleiß wirst du in Null Komma nichts bei Lurchaugen und Krötenzungen landen.

Die Lösung, die ihm einfiel, war wie ein kühles Lüftchen an einem heißen Tag... und es war eine grotesk simple Lösung. Seine Lektüre den ganzen Sommer über hatte darauf abgezielt, das Problem zu verstehen, statt eine Lösung dafür zu finden. Wenn es um Lösungen ging, hatte er sich fast ausschließlich auf private Hausmittelchen wie Whiskey und Honig verlassen, selbst wenn die Bücher ihm versichert hatten, daß sie gar nicht oder nur kurze Zeit helfen würden. Obwohl man in den Büchern ein paar angeblich zuverlässige Methoden nachlesen konnte, mit Schlaflosigkeit fertigzuwerden, hatte Ralph bisher nur die einfachste und einsichtigste ausprobiert: früher am Abend ins Bett zu gehen. Diese Lösung hatte nicht funktioniert - er hatte einfach bis halb zwölf oder so wachgelegen, war dann eingeschlafen und zu einem neuen, früheren Zeitpunkt aufgewacht -, aber möglicherweise half etwas anderes.

Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

3

Statt den Nachmittag mit seiner üblichen hektischen Gartenarbeit zu verbringen, ging Ralph in die Bibliothek und blätterte ein paar Bücher durch, die er schon gelesen hatte. Der allgemeine Konsens schien zu sein, wenn es nichts half, früher ins Bett zu gehen, dann vielleicht, wenn man später ging. Ralph kehrte von verhaltener Hoffnung erfüllt nach Hause zurück (eingedenk seines früheren Abenteuers mit dem Bus). Es könnte klappen. Und wenn nicht, blieben ihm immer noch Bach, Beethoven und William Ackerman.

Sein erster Versuch, diese Technik auszuprobieren, die in einem der Bücher als »Schlafverzögerung« bezeichnet wurde, endete komisch. Er erwachte zur inzwischen üblichen Zeit (3:45, wie ihm die Digitaluhr auf dem Kaminsims im Wohnzimmer verriet) mit wundem Rücken und schmerzendem Hals und hatte zunächst keine Ahnung, wie er in den Sessel am Fenster gelangt war und weshalb der Fernseher lief, der außer Schnee und einem leisen, brandungsähnlichen Rauschen nichts sendete.

Erst als er den Kopf vorsichtig drehte und dabei den Nacken mit der Hand stützte, wurde ihm klar, was geschehen war. Er hatte vorgehabt, bis mindestens drei, wenn möglich vier Uhr wachzubleiben. Dann wollte er ins Bett gehen und den Schlaf des Gerechten schlafen. So jedenfalls hatte der Plan ausgesehen. Statt dessen war der Superschlaflose der Harris Avenue bei Jay Lenos Eröffnungsmonolog eingenickt wie ein Kind, das versucht, die ganze Nacht aufzubleiben, nur um zu sehen, wie es ist. Und dann hatte das Abenteuer selbstverständlich seinen Abschluß damit gefunden, daß er zur gewohnten Zeit wieder aufgewacht war. Das Problem war dasselbe, würde Joe Friday wahrscheinlich gesagt haben; nur der Schauplatz hatte sich verändert.

Ralph schlenderte trotzdem ins Bett und hoffte entgegen jeder Hoffnung, aber der Drang (wenn nicht das Bedürfnis) zu schlafen, war vergangen. Nachdem er eine Stunde wachgelegen hatte, war er wieder zu seinem Sessel gegangen, diesmal mit einem Kissen, das er hinter seinen steifen Hals steckte, und einem reumütigen Grinsen im Gesicht.

Sein zweiter Versuch, der in der darauffolgenden Nacht stattfand, hatte nichts Komisches. Die Müdigkeit stellte sich zur gewohnten Zeit ein - 23:20, als Pete Cherney gerade die Wettervorhersage für den folgenden Tag verlas. Diesmal kämpfte Ralph erfolgreich dagegen an und schaffte es, bis Whoopi wachzubleiben (obwohl er bei Whoopis Unterhaltung mit Roseanne Arnold, dem Gast des heutigen Abends, fast eingenickt wäre), ind dann bis zum anschließenden Spätfilm. Es handelte sich um einen alten Streifen mit Audie Murphy, in dem Audie den Krieg im Pazifik praktisch im Alleingang zu gewinnen schien. Manchmal hatte Ralph den Eindruck, als existiere eine unausgesprochene Abmachung zwischen den lokalen Fernsehsendern, wonach Filme, die in den frühen Morgenstunden gesendet wurden, nur Audie Murphy oder James Brolin in den Hauptrollen haben durften.

Nachdem der letzte japanische Bunker gesprengt worden war, verabschiedete sich Kanal 2. Ralph schaltete herum und suchte nach einem anderen Film, fand aber nichts als Flimmern. Er vermutete, wenn er Kabel gehabt hätte, hätte er die ganze Nacht Filme sehen können, wie Bill oder Lois; er erinnerte sich, daß er es auch auf seine Liste zu erledigender Dinge im neuen Jahr geschrieben hatte. Aber dann war Carolyn gestorben, und Kabelfernsehen schien - mit oder ohne Home Box Office - nicht mehr wichtig zu sein.

Er fand eine Ausgabe von Sports Illustrated und las einen Artikel über Damentennis durch, den er beim erstenmal vergessen hatte, und sah immer wieder auf die Uhr, als sich die Zeiger der Drei näherten. Er war fast überzeugt, daß es funktionieren würde. Seine Lider waren so schwer, daß ihm schien, sie wären in Beton getunkt worden, und obwohl er den Tennisartikel gründlich las, Wort für Wort, hatte er keine Ahnung, worauf der Verfasser hinauswollte. Ganze Sätze schössen durch sein Gehirn, ohne sich festzusetzen, wie kosmische Strahlen.

Ich werde heute nacht schlafen - das glaube ich wirklich. Zum erstenmal seit Monaten wird die Sonne ohne meine Hilfe aufgehen müssen, und das ist nicht nur gut, Freunde und Nachbarn, das ist großartig.

Kurz nach drei Uhr löste sich die angenehme Schläfrigkeit dann langsam auf. Sie ging nicht mit einem Knall, wie ein Sektkorken, sondern schien wegzutröpfeln wie Sand durch ein feines Sieb oder Wasser einen teilweise verstopften Abfluß hinunter. Als Ralph feststellte, was passierte, verspürte er keine Panik, sondern niedergeschlagene Resignation. Er kannte das Gefühl als wahres Gegenteil von Hoffnung, und als er um Viertel nach drei mit seinen Hausschuhen ins Schlafzimmer schlurfte, konnte er sich nicht erinnern, schon einmal eine Depression erlebt zu haben wie die, die ihn jetzt umfing. Ihm war, als müßte er daran ersticken.