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»Gute Frage«, sagte Wyzer. Er stieß ein kurzes, verwirrtes Lachen aus. »Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung. Das war der merkwürdigste Tag in meinem ganzen Leben. Daran kann absolut kein Zweifel bestehen.«

Der Waldweg endete an einer zweispurigen, asphaltierten Straße. Wyzer hielt an, sah vorschriftsmäßig nach links und rechts und bog dann links ab. Sie passierten Sekunden später ein Schild mit der Aufschrift ZUR 195, und Ralph vermutete, daß Wyzer, sobald sie die Interstate erreichten, nach Norden abbiegen würde. Jetzt wußte er, wo sie waren - etwa drei Meilen südlich der Route 33. Von hier aus konnten sie in weniger als einer halben Stunde wieder in Derry sein, und Ralph hatte keine Zweifel, daß sie genau dorthin unterwegs waren.

Ralph fing unvermittelt an zu lachen. »Nun sind wir also alle glücklich versammelt«, sagte er. »Drei glückliche Schlaflose bei einer Spritztour. Möglicherweise auch vier. Willkommen in der wunderbaren Welt der Hyperrealität, Joe.«

Joe warf ihm einen scharfen Blick zu, aber dann entspannte er sich und grinste. »Ist sie das?« Und ehe Ralph oder Lois antworten konnten, sagte er: »Ja, ich nehme an, daß sie es ist.« »Hast du das Gedicht gelesen?« fragte Dorrance hinter Ralph. »Das anfängt: >Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann<?«

Ralph drehte sich um und sah, daß Dorrance immer noch sein breites, verklärtes Lächeln sehen ließ. »Ja, das habe ich. Dor -«

»Ist das nicht ein Knüller? Es ist so gut. Stephen Dobyns erinnert mich an Hart Crane ohne das Prätentiöse. Vielleicht meine ich auch Stephen Crane, aber das glaube ich nicht. Selbstverständlich fehlt ihm das Melodische von Dylan Thomas, aber ist das wirklich so schlimm? Wahrscheinlich nicht. Die moderne Dichtung hat nichts mit Musik zu tun. Sie handelt von Mut - wer ihn hat und wer ihn nicht hat.«

»O Mann«, sagte Lois. Sie verdrehte die Augen.

»Er könnte uns wahrscheinlich alles sagen, was wir wissen müssen, wenn wir ein paar Ebenen aufsteigen würden«, sagte Ralph. »Aber das möchtest du nicht, Dor, oder? Weil die Zeit schneller vergeht, wenn man oben ist.«

»Bingo«, antwortete Dorrance. Weiter vorne konnten sie die blauen Schilder der Interstateauffahrt sehen. »Ihr werdet später aufsteigen müssen, nehme ich an, du und Lois, darum ist es wichtig, daß ihr jetzt soviel Zeit wie möglich spart. Zeit... spart.« Er machte eine seltsam sinnträchtige Geste, indem er mit dem knorrigen Daumen und dem Zeigefinger durch die Luft fuhr und sie dabei zusammenführte, als wollte er einen Durchgang andeuten, der immer schmaler wird.

Joe Wyzer schaltete den Blinker ein, bog links ab und fuhr die nördliche Auffahrt Richtung Derry hinauf.

»Wie sind Sie in das alles verwickelt worden, Joe?« fragte Ralph ihn. »Warum hat Dorrance von allen Leuten in der West Side ausgerechnet Sie als Chauffeur ausgewählt?«

Wyzer schüttelte den Kopf, und als das Auto den Highway erreicht hatte, fuhr es sofort auf die Überholspur. Ralph streckte rasch die Hand aus und nahm eine Kurskorrektur vor, wobei er sich daran erinnerte, daß Joe in letzter Zeit wahrscheinlich auch nicht viel Schlaf bekommen hatte. Glücklicherweise war der Highway zumindest so weit von der Stadt entfernt weitgehend verlassen. Das ersparte ihm immerhin eine Angst, und davon hatte er heute weiß Gott schon genug gehabt.

»Wir sind alle durch den Plan zusammengebunden«, sagte Dorrance unvermittelt. »Das ist Ka-tet, was bedeutet eines aus vielen. So, wie viele Reime ein einziges Gedicht bilden. Verstanden?«

»Nein.« Ralph und Lois und Joe sagten es gleichzeitig, ein perfekter Chor, und dann lachten sie nervös. Die drei Schlaflosen der Apokalypse, dachte Ralph. Gott steh uns bei.

»Schon gut«, sagte Dor mit seinem breiten Grinsen. »Glaubt es mir einfach. Du und Lois... Helen und ihre kleine Tochter... Bill... Faye Chapin... Trigger Vachon... ich! Alle Teil des Plans.«

»Das ist schön, Dor«, sagte Lois, »aber wohin bringt uns der Plan jetzt? Und was sollen wir tun, wenn wir dort sind?«

Dorrance beugte sich nach vorne und flüsterte Joe Wyzer etwas ins Ohr, wobei er den Mund mit einer knotigen Hand voller Altersflecke abschirmte. Dann lehnte er sich wieder zurück und schien ungeheuer zufrieden mit sich selbst zu sein.

»Er sagt, wir fahren zum Bürgerzentrum«, sagte Joe.

»Zum Bürgerzentrum!« rief Lois erschrocken aus. »Nein, das kann nicht richtig sein! Die beiden kleinen Männer haben gesagt -«

»Vergiß sie vorerst mal«, sagte Dorrance. »Vergiß nur nicht, worum es geht - Mut. Wer ihn hat, und wer nicht.«

Fast eine Meile herrschte Schweigen in Joe Wyzers Ford. Dorrance schlug sein Buch mit Gedichten von Robert Creeley auf und fing an zu lesen, wobei er die Zeilen mit dem gelben Nagel eines Fingers nachfuhr. Ralph mußte an ein Spiel denken, das sie manchmal als Kinder gespielt hatten - kein besonders schönes. Es hieß Schnepfenjagd. Man nahm sich Kinder, die jünger und wesentlich leichtgläubiger als man selbst waren, tischte ihnen ein Lügenmärchen über die sagenhafte Schnepfe auf, und dann gab man ihnen Jutesäcke und ließ sie einen ganzen Nachmittag unter Mühen und Plagen durch Wald und Flur ziehen, um nach nicht existierenden Vögeln Ausschau zu halten. Dieses Spiel nannte man auch »Such die Wildgans«, und er hatte plötzlich das unausweichliche Gefühl, daß Klotho und Lachesis es auf dem Dach des Krankenhauses mit ihnen gespielt hatten.

Er drehte sich auf dem Sitz herum und sah den alten Dor direkt an. Dorrance knickte die obere Ecke der Seite um, die er gerade las, und betrachtete Ralph mit höflichem Interesse.

»Sie haben uns gesagt, wir sollten nicht mal in die Nähe von Ed Deepneau oder Doc Nr. 3 kommen«, sagte Ralph. Er sagte es langsam und sehr deutlich. »Sie haben uns unmißverständlich klargemacht, daß wir nicht einmal daran denken sollten, weil die die beiden in dieser Situation mit außergewöhnlichen Kräften versehen worden seien und wir zerquetscht würden wie die Fliegen. Ich glaube, Lachesis hat sogar angedeutet, wenn wir versuchen würden, uns Ed oder Atropos zu nähern, würden wir vielleicht Besuch von einem der Bosse der höheren Ebenen bekommen... jemand, den Ed den Scharlachroten König nennt. Nach allem, was man so hört, nicht unbedingt ein netter Kerl.«

»Ja«, sagte Lois mit schwacher Stimme. »Das haben sie uns auf dem Dach des Krankenhauses gesagt. Sie haben gesagt, wir sollten statt dessen nach High Ridge. Um die verantwortliche Frau davon zu überzeugen, daß sie die Veranstaltung mit Susan Day absagt.«

»Und ist Ihnen das gelungen?« fragte Wyzer.

»Selbstverständlich nicht! Eds verrückte Freunde sind vor uns dort gewesen, haben das Haus angezündet und mindestens zwei Frauen ermordet. Erschossen. Ich glaube, eine war genau die Frau, mit der wir reden sollten.«

»Gretchen Tillbury«, sagte Ralph.

»Ja«, stimmte Lois zu. »Aber wir müssen ganz bestimmt nichts mehr tun - ich kann mir nicht vorstellen, daß die Veranstaltung stattfinden wird. Ich meine, wie könnten sie das jetzt noch tun? Mein Gott, mindestens vier Menschen wurden getötet! Sie müssen die Rede absagen oder verschieben. Ist es nicht so?«

Weder Dorrance noch Joe antworteten. Ralph antwortete auch nicht - er mußte an Helens blutunterlaufene, wütende Augen denken. Wie kannst du das fragen? hatte sie gesagt. Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen.

Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen.

Gab es eine rechtliche Möglichkeit, daß die Polizei es ihnen verbieten konnte? Wahrscheinlich nicht. Der Stadtrat? Vielleicht. Vielleicht konnten sie eine Sondersitzung einberufen und die Genehmigung widerrufen, die sie Woman-Care erteilt hatten. Aber würden sie das tun? Wenn zwei- oder dreitausend erboste, trauernde Frauen vor dem Rathaus auf und ab marschierten und unisono brüllten: Wenn sie uns jetzt aufhalten haben sie gewonnen, würde der Stadtrat es dann wagen, die Genehmigung zu widerrufen?