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Ralph spürte, wie allmählich eine tiefe Niedergeschlagenheit von ihm Besitz ergriff.

Helen hielt die Veranstaltung heute abend eindeutig für wichtiger denn je, und damit stand sie sicher nicht allein. Es ging nicht mehr nur um freie Entscheidung und wer das Recht hatte, zu bestimmen, was eine Frau mit ihrem eigenen Körper tat; jetzt ging es um Belange, die wichtig genug waren, dafür zu sterben, und das Andenken der Freunde zu ehren, die bereits gestorben waren. Die Einsätze des Pokerspiels waren sprunghaft in die Höhe geschnellt. Jetzt ging es nicht mehr um Politik, sondern um eine Art weltliche Totenmesse für die Gefallenen.

Lois packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn heftig. Ralph kehrte ins Hier und Jetzt zurück, aber langsam, wie ein Mann, der mitten in einem unglaublich wirklichkeitsnahen Traum geweckt wird.

»Sie werden doch absagen, oder nicht? Und selbst wenn nicht, wenn sie es aus einem verrückten Grund nicht tun, wird kaum jemand hingehen, richtig? Nach allem, was in High Ridge passiert ist, werden sie Angst davor haben, zu kommen.«

Ralph dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Die meisten werden denken, daß die Gefahr vorüber ist. In den Nachrichten werden sie sagen, daß zwei der Radikalen, die den Anschlag begangen haben, tot sind, und daß der dritte katatonisch ist, oder so was.«

»Aber Ed! Was ist mit Ed?« schrie sie. »Er ist derjenige, der sie zu dem Anschlag angestiftet hat, um Himmels willen! Er ist doch derjenige, der sie überhaupt erst dorthin geschickt hat!«

»Das mag stimmen, wird wahrscheinlich stimmen, aber wie könnten wir es beweisen?« fragte Ralph. »Weißt du, was die Cops meiner Meinung nach in Charlie Pickerings Bleibe finden werden? Einen Abschiedsbrief, in dem steht, daß alles seine Idee war. Ein Brief, der Ed wahrscheinlich unter dem Vorwand einer Anklage völlig entlasten wird... wie Ed sie im Stich gelassen hat, als sie ihn am nötigsten brauchten. Und wenn sie diesen Brief nicht bei Charlie Pickering finden, dann bei Frank Feiton. Oder Sandra McKay.«

»Aber das... das -« Lois verstummte und biß sich auf die Unterlippe. Dann sah sie mit hoffnungsvollem Blick zu Wyzer. »Was ist mit Susan Day? Wo ist sie? Weiß das jemand? Sie? Ralph und ich werden sie anrufen und ihr sagen -«

»Sie ist schon in Derry«, sagte Wyzer, »aber ich bezweifle, daß selbst die Polizei genau weiß, wo sie sich aufhält. Aber als der alte Mann und ich dorthin gefahren sind, habe ich in den Nachrichten gehört, daß die Veranstaltung heute abend stattfinden wird... und das angeblich aus dem Mund der Dame höchstpersönlich.«

Klar, dachte Ralph. Logisch. Die Show geht weiter, die Show muß weitergehen, und das weiß sie. Jemand, der all die Jahre auf der Welle der Frauenbewegung reitet - verdammt, seit der Convention in Chicago 1968 -, weiß genau, wann ein entscheidender Augenblick gekommen ist. Sie hat das Risiko abgeschätzt und akzeptabel gefunden. Entweder das, oder sie hat sich überlegt, daß der Verlust der Glaubwürdigkeit untragbar wäre, wenn sie einfach wieder abzieht. Vielleicht von beidem etwas. Wie ckm auch sei, sie ist genauso Gefangene der Ereignisse - des Ka-tet - wie wir alle.

Sie hatten die Randbezirke von Derry erreicht. Ralph konnte das Bürgerhaus am Horizont sehen.

Jetzt wandte sich Lois an den alten Dor. »Wo ist sie? Weißt du das? Es spielt keine Rolle, wieviel Leibwächter sie um sich hat; Ralph und ich können unsichtbar sein, wenn wir es wollen... und wir können sehr überzeugend auf die Leute wirken.«

»Oh, es würde überhaupt nichts ändern, wenn ihr Susan Day umstimmen würdet«, sagte Dor. Er stellte immer noch das breite, nervtötende Grinsen zur Schau. »Sie werden zum Bürgerzentrum kommen, was auch geschehen mag. Und wenn sie vor verschlossenen Türen stehen, werden sie sie aufbrechen und ihre Veranstaltung trotzdem abhalten. Um zu zeigen, daß sie keine Angst haben.«

»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, sagte Ralph düster.

»Richtig, Ralph!« sagte Dor fröhlich und tätschelte Ralphs Arm.

Fünf Minuten später fuhr Joe mit dem Ford an der scheußlichen Plastikstatue von Paul Bunyan vorbei, die vor dem Bürgerzentrum stand, und bog an einem Schild mit der Aufschrift KOSTENLOS PARKEN BEI IHREM BÜRGERZENTRUM! ab.

Der einen Morgen große Parkplatz lag zwischen dem Gebäude des Bürgerzentrums selbst und der Rennbahn des Bassey Parks. Wäre die heutige Veranstaltung ein Rock-Konzert oder eine Bootsschau oder ein Ringkampf gewesen, hätten sie den Parkplatz um diese Zeit noch ganz für sich allein gehabt, aber das Ereignis des heutigen Abends war offensichtlich meilenweit von einem Basketballspiel oder einem Monstertruck-Rennen entfernt. Sechzig bis siebzig Autos standen bereits auf dem Parkplatz, überall standen kleine Gruppen beisammen und betrachteten das Gebäude. Die meisten waren Frauen. Einige hatten Picknickkörbe dabei, manche weinten, fast alle trugen einen schwarzen Trauerflor am Arm. Ralph sah eine Frau mittleren Alters mit einem erschöpften, intelligenten Gesicht und einem dichten grauen Haarschopf, die die schwarzen Bänder aus einer Tragetasche verteilte. Sie trug ein T-Shirt mit dem Gesicht von Susan Day darauf und dem Schriftzug

WE SHALL VERC ME.

Auf der Durchfahrt vor den Eingangstüren des Bürgerhauses herrschte noch emsigere Betriebsamkeit als auf dem Parkplatz. Nicht weniger als sechs Übertragungswagen diverser Fernsehsender parkten dort, und verschiedene Techniker standen in kleinen Gruppen unter dem dreieckigen Baldachin und unterhielten sich darüber, wie sie das Ereignis des heutigen Abends anpacken wollten. Und laut dem bettlakengroßen Banner, das von dem Baldachin herabhing und träge im Wind flatterte, würde ein Ereignis stattfinden. GROSSVERANSTALTUNG, stand in großen, verschwommenen Buchstaben aus Spraydosenfarben darauf. 20:00 UHR. BEWEISEN SIE IHRE SOLIDARITÄT, ZEIGEN SIE IHRE WUT, TRÖSTEN SIE IHRE SCHWESTERN.

Joe schob den Schalthebel des Ford auf Parken, dann drehte er sich zu dem alten Dor um und zog die Brauen hoch. Dor nickte, worauf Joe Ralph ansah. »Ich schätze, hier müssen Sie und Lois aussteigen, Ralph. Viel Glück. Ich würde mit Ihnen kommen, wenn ich könnte - ich habe ihn sogar darum gebeten -, aber er sagt, ich bin nicht richtig ausgerüstet.« »Schon gut«, sagte Ralph. »Wir danken Ihnen für alles, was Sie getan haben, nicht wahr, Lois?«

»Ganz bestimmt«, sagte Lois.

Ralph griff nach der Türklinke, dann ließ er sie wieder los. Er drehte sich zu Dorrance um. »Worum geht es hier? Ich meine, wirklich? Es geht nicht darum, die zweitausend Menschen zu retten, die laut Klotho und Lachesis heute abend hier anwesend sein werden, soviel steht fest. Für diese ewigen Mächte, von denen sie gesprochen haben, sind zweitausend Menschenleben wahrscheinlich nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein. Also worum geht es? Warum sind wir hier?«

Nun verschwand Dorrance' Grinsen endlich; ohne das sah er jünger und seltsam eindrucksvoll aus. »Hiob hat Gott dieselbe Frage gestellt«, sagte er, »und keine Antwort bekommen. Du wirst auch keine bekommen, aber so viel kann ich dir verraten: Du bist zum Angelpunkt gewaltiger Ereignisse und Kräfte geworden. Das Wirken des höheren Universums ist fast vollständig zum Stillstand gekommen, da sowohl der Plan wie auch der Zufall ihr Augenmerk darauf richten, welche Fortschritte du machst.«

»Das ist prima, aber ich verstehe es nicht«, sagte Ralph mehr resigniert als wütend.

»Ich ebensowenig, aber zweitausend Menschenleben sind ausreichend für mich«, sagte Lois leise. »Ich könnte nicht mehr weiterleben, wenn ich nicht mindestens versuchen würde, zu verhindern, was geschehen soll. Ich würde den Rest meines Lebens vom Leichentuch um dieses Gebäude herum träumen. Selbst wenn ich nur eine Stunde pro Nacht schlafen könnte, würde ich davon träumen.«