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Und dabei ist dies nicht einmal ein Schritt auf der Leiter hinauf, dachte er. Jedenfalls glaube ich es nicht. Ich sehe diese größere Welt nur wie ein Mann, der durch ein Fenster schaut. Ich bin nicht in ihr.

Und er wollte auch gar nicht darin sein. Wenn man so etwas nur vor sich sah, wünschte man sich fast, man wäre blind.

Lois sah ihn stirnrunzelnd an. »Was, die Farben? Nein. Sollte ich es versuchen? Stimmt etwas nicht mit ihnen?«

Er versuchte zu antworten, konnte es aber nicht. Einen Augenblick später spürte er, wie sie seinen Arm über dem Ellbogen mit einem schmerzhaften Klammergriff packte, und wußte, daß eine Erklärung nicht mehr nötig war. Ob gut oder schlecht, Lois sah es nun mit eigenen Augen.

»O Gott«, wimmerte sie mit einer atemlosen dünnen Stimme, kurz davor, in Tränen auszubrechen. »O Gott, o Gott, ojeh.«

Vom Dach des Derry Home hatte die Aura, die über dem Bürgerzentrum hing, wie ein riesiger Schirm ausgesehen - wie das Emblem der Travellers' Insurance, das ein Kind mit Wachsmalstift schwarz angemalt hatte. Hier, auf dem Parkplatz, war es, als stünde man in einem großen und unvorstellbar häßlichen Moskitonetz, so alt und verwahrlost, daß der Gazestoff von schwarz-grünem Mehltau verunstaltet wurde. Die helle Oktobersonne wurde zu einer trüben Scheibe angelaufenen Silbers. Die Atmosphäre wurde düster und verhangen und erinnerte Ralph an Fotos von London gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Sie sahen nicht nur das Leichentuch des Bürgerzentrums vor sich, nicht mehr; sie waren lebendig darin begraben. Ralph konnte spüren, wie es sich gierig an ihn schmiegte und versuchte, ihn mit Gefühlen von Verlust, Verzweiflung und Niedergeschlagenheit zu ersticken.

Warum das alles? fragte er sich und verfolgte apathisch, wie Joe Wyzers Ford mit dem alten Dor auf dem Rücksitz die Main Street entlangfuhr. Ich meine, wirklich, was soll das? Wir können es nicht verändern, völlig unmöglich. Vielleicht konnten wir in High Ridge etwas ausrichten, aber der Unterschied zwischen dem, was dort vor sich ging, und dem, was sich hier abspielt, ist wie der zwischen einem Klecks und einem schwarzen Loch. Wenn wir versuchen, uns hier einzumischen, werden wir zerquetscht.

Er hörte ein Stöhnen neben sich und stellte fest, daß Lois weinte. Er nahm seine ganze schwindende Energie zusammen und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Durchhalten, Lois«, sagte er. »Wir können es damit aufnehmen.« Aber er hatte seine Zweifel.

»Wir atmen es ein!« schluchzte sie. »Es ist, als würden wir den Tod einatmen! O Ralph, laß uns von hier fortgehen! Bitte, laß uns einfach fortgehen!«

Das klang so verlockend für ihn wie Wasser auf einen Verdurstenden in der Wüste wirken mußte, aber er schüttelte den Kopf. »Heute abend werden hier zweitausend Menschen sterben, wenn wir nichts unternehmen. Ich bin ziemlich verwirrt, was den Rest der Angelegenheit angeht, aber das sehe ich ohne Schwierigkeiten ein.«

»Okay«, flüsterte sie. »Laß nur den Arm um mich gelegt, damit ich mir den Schädel nicht aufschlage, wenn ich ohnmächtig werde.«

Es war die reine Ironie, dachte Ralph. Sie hatten nun Gesichter und Körper von vitalen Menschen mittleren Alters, schlurften aber über den Parkplatz wie zwei alte Leute, deren Muskeln zu Brei und deren Knochen zu Glas geworden sind. Er konnte Lois schwer und keuchend atmen hören, wie eine Frau, die gerade schwer verletzt worden ist.

»Ich bringe dich zurück, wenn du willst«, sagte Ralph, und das war sein Ernst. Er würde sie zum Parkplatz zurückbringen, er würde sie zu der orangefarbenen Bank der Bushaltestelle bringen, die er von hier sehen konnte. Und wenn der Bus kam, wäre es das Einfachste von der Welt, einfach einzusteigen und zur Harris Avenue zurückzufahren. Zwei Vierteldollarmünzen konnten den Trick bewerkstelligen.

Er spürte, wie die tödliche Aura, die diesen Ort umgab, auf ihm lastete, sie wollte ihn ersticken wie ein Plastikbeutel, und ihm fiel etwas ein, das McGovern über May Lochers Emphysem gesagt hatte - daß es eine der Krankheiten sei, von denen man immer etwas hatte. Jetzt hatte er eine ziemlich gute Vorstellung, wie sich May Locher in den letzten Lebensjahren gefühlt haben mußte. Es spielte keine Rolle, wie fest er die schwarze Luft einsog oder wie tief in die Lungen er sie pumpte; sie befriedigte nicht. Sein Herz und sein Kopf pochten unablässig, und er fühlte sich, als hätte er den schlimmsten Kater seines Lebens.

Er wollte gerade den Mund aufmachen und ihr sagen, daß er sie zurückbringen würde, als sie selbst atemlos keuchend das Wort ergriff. »Ich glaube, ich schaffe es... aber ich hoffe... es wird nicht lange dauern. Ralph, wie kommt es, daß wir etwas so Schlimmes nicht spüren können, auch wenn wir die Farben nicht sehen? Warum können sie es nicht?« Sie deutete auf die Presseleute, die sich vor dem Bürgerzentrum drängten. »Sind wir Kurzfristigen so unempfindlich? Der Gedanke gefällt mir nicht.«

Er schüttelte den Kopf, um anzudeuten, daß er es nicht wußte, aber er überlegte sich, daß die Nachrichtensprecher, Videotechniker und das Wachpersonal vor den Türen und unter dem Banner, das vom Baldachin hing, möglicherweise doch etwas spürten. Er sah eine Menge Leute, die Kaffeetassen aus Plastik in den Händen hielten, aber niemand trank tatsächlich etwas davon. Ein Karton mit Krapfen stand auf der Haube eines Kombis, aber nur ein einziger war herausgeholt worden, und der lag angebissen auf einer Serviette daneben. Ralph betrachtete ein Dutzend Gesichter und sah nicht ein einziges Lächeln. Die Nachrichtenleute gingen ihrer Arbeit nach - sie justierten die Kameras, markierten Stellen, wo die Moderatoren ins Bild kamen, verlegten Koaxialkabel und befestigten sie mit Klebeband auf dem Beton -, aber sie taten es ohne die Aufregung, die Ralph bei einer Geschichte dieser Größenordnung erwartet hätte.

Connie Chung kam mit einem bärtigen, gutaussehenden Kameramann unter dem Baldachin hervor - MICHAEL ROSENBERG stand auf dem Namensschild an seiner CBS-Jacke - und hob die Arme, wobei sie mit den Händen einen Rahmen bildete, um ihm zu zeigen, wie sie das Banner aufgenommen haben wollte, das von dem Baldachin herunterhing. Rosenberg nickte. Chungs Gesicht war blaß und ernst, und einmal im Verlauf ihrer Unterhaltung mit dem bärtigen Kameramann sah Ralph, wie sie verstummte und unsicher eine Hand an die Schläfe hielt, als hätte sie den Faden verloren oder fühlte sich schwach.

Er fand, daß sämtlichen Mienen, die er sah, unterschwellig ein Zug gemeinsam war - ein roter Faden gleichsam -, und er glaubte, daß er wußte, was es war: Sie litten alle an etwas, das man Melancholie genannt hatte, als er noch ein Kind war, und Melancholie war nur ein besseres Wort für den Blues.

Ralph erinnerte sich an Zeiten in seinem Leben, als er das emotionale Äquivalent von einer kalten Strömung beim Schwimmen oder Turbulenzen beim Fliegen erlebt hatte. Man schleppte sich so durch seinen Tag, fühlte sich manchmal großartig, manchmal nur so lala, aber man kam zurecht und brachte es hinter sich... und dann stürzte man plötzlich ohne ersichtlichen Grund ab und ging in Flammen auf. Ein Gefühl von Scheiße, was soll's überkam einen - in dem Moment ohne Zusammenhang mit einem bestimmten Ereignis im Leben, aber trotzdem ungeheuer stark ausgeprägt -, und man wollte einfach nur wieder ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen.

Vielleicht wird dieses Gefühl von so etwas verursacht, dachte er. Vielleicht liegt es daran, daß wir mit so etwas konfrontiert werden - ein gewaltiges Chaos von Tod oder Trauer lag in der Luft, das sich ausbreitete wie ein Festzelt aus Spinnweben und Tränen statt Segeltuch und Seilen. Wir sehen es nicht, nicht auf unserer kurzfristigen Ebene, aber wir spüren es. O ja, wir spüren es. Und jetzt...