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Jetzt versuchte es, sie auszusaugen. Vielleicht waren sie selbst keine Vampire, wie sie anfangs befürchtet hatten, aber dieses Ding war auf jeden Fall einer. Das Leichentuch verfügte über ein träges, halbintelligentes Leben, und es würde sie aussaugen, wenn es konnte. Wenn sie es zuließen.

Lois stolperte gegen ihn, und Ralph mußte alle Kraft aufbieten, damit sie nicht beide zu Boden fielen. Dann hob sie den Kopf (langsam, als wäre ihr Haar in Zement getaucht worden), bildete mit einer Hand einen Trichter am Mund und atmete tief ein. Gleichzeitig flackerte sie ein wenig. Unter anderen Umständen hätte Ralph dieses Flackern als optische Täuschung abgetan, aber jetzt nicht. Sie war emporgestiegen. Nur ein klein wenig. Nur so weit, daß sie sich gütlich tun konnte.

Er hatte nicht gesehen, wie Lois die Aura der Kellnerin angezapft hatte, aber jetzt spielte sich alles vor seinen Augen ab. Die Auren der Medienleute waren wie kleine, aber hell erleuchtete Papierlampions, die tapfer in einer riesigen, dunklen Höhle strahlten. Nun fuhr ein gebündelter violetter Lichtstrahl aus einem heraus - aus Connie Chungs bärtigem Kameramann Michael Rosenberg. Vor Lois' Gesicht teilte er sich in zwei Strahle. Der obere teilte sich wieder zweimal und fuhr in ihre Nasenlöcher; der untere zwischen ihre geöffneten Lippen und in den Mund. Er konnte ein schwaches Leuchten hinter ihren Wangen erkennen, das sie von innen erhellte wie eine Kerze eine Kürbislaterne.

Ihr Griff um ihn lockerte sich, und plötzlich war die Last ihres Gewichts von ihm genommen. Einen Moment später verschwand der violette Lichtstrahl. Sie drehte sich zu ihm um.

Ihre bleigrauen Wangen hatten wieder etwas Farbe angenommen - nicht viel, aber etwas.

»Schon besser - viel besser. Jetzt du, Ralph!«

Er zögerte - ihm kam es immer noch wie Diebstahl vor -, aber es mußte sein, wenn er nicht hier und jetzt zusammenbrechen wollte; er konnte fast spüren, wie der letzte Rest der geborgten Energie des Nirvana-Jungen durch seine Poren entwich. Er legte die Hand um den Mund, wie er es heute morgen auf dem Parkplatz des Dunkln Donuts getan hatte, und drehte sich auf der Suche nach einem Opfer leicht nach links. Connie Chung war einige Schritte auf sie zu gekommen; sie sah immer noch zu dem Banner hinauf und unterhielt sich mit Rosenberg darüber (dem es nach Lois' Anleihe auch nicht schlechter zu gehen schien als vorher). Ohne weiter nachzudenken, inhalierte Ralph heftig durch den Trichter seiner Finger.

Chungs Aura hatte denselben lieblichen Elfenbeinfarbton eines Brautkleids wie die, welche Helen und Nat an dem Tag umgeben hatten, als sie mit Gretchen Tillbury bei ihm zu Hause gewesen waren. Aber statt eines Lichtstrahls schoß so etwas wie ein langes, gerades Band aus Chungs Aura. Ralph spürte, wie ihn fast augenblicklich Kraft durchdrang und die quälende Erschöpfung aus seinen Gelenken und Muskeln vertrieb. Und er konnte wieder klar denken, als wäre eine gewaltige Menge Matsch gerade aus seinem Gehirn gespült worden.

Connie Chung verstummte, sah kurz zum Himmel und unterhielt sich dann weiter mit dem Kameramann. Ralph drehte sich um und stellte fest, daß Lois ihn ängstlich ansah. »Besser?« flüsterte sie.

»Viel besser«, sagte er, »aber ich komme mir immer noch vor wie unter einem Leichentuch.«

»Ich glaube -«, begann Lois, aber dann fiel ihr Blick auf etwas links vom Eingang des Bürgerzentrums. Sie schrie und preßte sich mit so weit aufgerissenen Augen an Ralph, daß es aussah, als würden sie aus ihren Höhlen quellen. Er folgte ihrem Blick, und der Atem schien ihm in der Kehle zu stocken. Die Architekten hatten versucht, die kahlen Backsteinseiten des Gebäudes aufzulockern und immergrüne Büsche daran entlang gepflanzt. Diese waren entweder vernachlässigt worden, oder man hatte sie absichtlich wachsen lassen, so daß sie ineinander verschlungen waren und den schmalen Grasstreifen zwischen sich und dem betonierten Bürgersteig zu überwuchern drohten, der neben der Durchfahrt verlief.

Riesige Insekten, die wie prähistorische Trilobiten aussahen, krabbelten in Scharen durch dieses Gestrüpp, krochen übereinander, stellten sich manchmal auf und hieben mit den Vorderbeinen nacheinander wie Hirsche, die in der Bruftzeit die Geweihe ineinander verkeilen. Sie waren nicht durchsichtig, wie der Vogel auf der Satellitenschüssel, hatten aber dennoch etwas Geisterhaftes und Unwirkliches an sich. Ihre Auren flackerten fiebrig (und hirnlos, fand Ralph) durch das gesamte Farbspektrum; sie waren so grell und dabei so kurzlebig, daß man sie fast für unheimliche Glühwürmchen hätte halten können.

Aber das sind sie nicht. Du weißt, daß sie das nicht sind.

»He!« Das war Rosenberg, Chungs Kameramann, der sie ansprach, aber fast alle vor dem Gebäude sahen her. »Alles in Ordnung mit ihr, Kollege?«

»Ja«, rief Ralph zurück. Er hatte immer noch die zu einer Röhre gekrümmte Hand vor dem Mund, ließ sie aber rasch sinken, weil er sich albern vorkam. »Sie ist nur -«

»Ich habe eine Maus gesehen!« rief Lois, die ein albernes, benommenes Grinsen zustande brachte... ein »Unsere Lois« Grinsen, wie Ralph es noch nicht gesehen hatte. Er war sehr stolz auf sie. Sie deutete mit einem Finger, der fast nicht zitterte, auf die immergrünen Büsche links von der Tür. »Sie ist da rein verschwunden. Mann, war die riesig! Hast du sie gesehen, Norton?«

»Nein, Alice.«

»Bleiben Sie hier, Lady«, rief Michael Rosenberg. »Heute abend werden Sie hier alle möglichen wilden Tiere sehen.« Es folgte ein gekünsteltes, fast gequältes Lachen, worauf sie sich alle wieder an die Arbeit machten.

»O Gott, Ralph!« flüsterte Lois. »Diese... diese Kreaturen...«

Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Ganz ruhig, Lois.«

»Sie wissen es, richtig? Deshalb sind sie hier. Sie sind wie die Geier.«

Ralph nickte. Vor seinen Augen kamen mehrere Insekten aus den Büschen heraus und krochen rastlos an der Wand herum. Sie bewegten sich benommen und träge - wie Fliegen im November auf einer Fensterscheibe - und hinterließen farbige Schleimspuren. Diese verblaßten rasch und verschwanden. Andere Insekten krochen unter den Büschen hervor auf den schmalen Grasstreifen.

Der Nachrichtenkommentator eines lokalen Senders schlenderte auf die verseuchte Stelle zu, und als er den Kopf drehte, konnte Ralph sehen, daß es sich um John Kirkland handelte. Er unterhielt sich mit einer gutaussehenden Frau in Bürokleidung Marke »Power Look«, die Ralph unter normalen Umständen extrem sexy gefunden hätte. Er vermutete, daß sie Kirklands Produzentin war, und fragte sich, ob Lisette Bensons Aura in Gegenwart dieser Frau grün werden würde.

»Sie gehen auf diese Käfer zu!« flüsterte Lois ihm panisch zu. »Wir müssen sie aufhalten, Ralph - wir müssen!«

»Wir werden überhaupt nichts tun.«

»Aber -«

»Lois, wir können nicht anfangen, über Insekten zu reden, die außer uns keiner sehen kann. Wir würden in der Klapsmühle enden. Außerdem sind die Käfer für sie gar nicht da.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Hoffe ich.«

Sie sahen zu, wie Kirkland und seine gutaussehende Kollegin auf den Rasen gingen... mitten hinein in einen gallertartigen Klumpen der zuckenden, krabbelnden Trilobiten. Einer glitt über Kirklands auf Hochglanz polierten Halbschuh, verharrte reglos, bis Kirkland einen Moment stehenblieb, und kroch dann sein Hosenbein hinauf.

»Susan Day ist mir ziemlich scheißegal«, sagte Kirkland. »Woman-Care ist die große Story hier, nicht sie - weinende Tussis mit schwarzen Armbinden.«

»Gib acht, John«, sagte die Frau trocken. »Man merkt, wie empfindsam du bist.«

»Wirklich? Gottverdammt.« Der Käfer an Kirklands Hosenbein schien sich seinen Schritt als Ziel vorgenommen zu haben. Ralph kam der Gedanke, wenn Kirkland plötzlich sehen könnte, was da gleich über seine Hoden kriechen würde, würde er wahrscheinlich den Verstand verlieren.