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Und er konnte zwei Geräusche hören, die einander überlagerten. Das obere war ein silbernes Seufzen. Der Wind könnte so ein Geräusch hervorbringen, dachte Ralph, wenn er lernen würde, wie man weint. Es war ein unheimliches Geräusch, aber das darunterliegende war regelrecht unangenehm - ein schlabberndes Kaugeräusch, als würde ganz in der Nähe ein riesiger Mund gewaltige Mengen Essen in sich hineinschaufeln.

Lois blieb stehen, als sie sich der dunklen, von Teilchen wimmelnden Haut des Leichentuchs näherten, und sah mit ängstlichen, bekümmerten Augen zu Ralph auf. Als sie ihn ansprach, sprach sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens. »Ich glaube nicht, daß ich da durch kann.« Sie machte eine Pause, rang mit sich und brachte schließlich auch den Rest heraus: »Weißt du, es lebt. Das ganze Ding. Es sieht sie« - Lois zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf die Leute auf dem Parkplatz und die Nachrichtenteams in der Nähe des Gebäudes -, »und das ist schlimm, aber es sieht auch uns, und das ist schlimmer... weil es weiß, daß wir es auch sehen können. Gefällt ihm nicht, wenn man es sieht. Wenn man es fühlt vielleicht, aber nicht, wenn man es sieht.«

Jetzt schien das unterschwellige Geräusch - das schmatzende Eßgeräusch - fast artikulierte Worte zu bilden, und je länger Ralph zuhörte, desto mehr wuchs seine Überzeugung, daß er recht hatte.

[Hinausss. Forrttt. Zieeeeht abb]

»Ralph«, flüsterte Lois. »Hörst du das?«

[Hasss euch. Töttt euch. Fressss euch.]

Er nickte und hielt sie wieder am Ellbogen. »Komm mit, Lois.« »Komm -? Wohin?«

»Runter. Bis ganz runter.«

Einen Moment sah sie ihn nur an und verstand nicht; dann dämmerte es ihr, und sie nickte. Ralph spürte, wie das Blinzeln in seinem Inneren stattfand - ein wenig stärker als das Liderflattern vor kurzer Zeit -, und plötzlich wurde der Tag um ihn herum klar. Die wirbelnde Smogbarriere vor ihnen schmolz und verschwand. Dennoch machten sie die Augen zu und hielten den Atem an, als sie sich der Stelle näherten, wo sich, wie sie wußten, der Rand des Leichentuchs befand. Ralph spürte, wie Lois seine Hand fester drückte, als sie durch die unsichtbare Barriere hastete, und als er selber hindurchging, schien ein dunkler Wirrwarr von Erinnerungen - der langsame Tod seiner Frau, der Verlust eines Lieblingshundes, als er noch ein Kind war, der Anblick von Bill McGovern, wie er sich bückte und die Hand auf die Brust drückte - zuerst seinen Geist einzuhüllen und ihn dann zu umklammern wie eine unbarmherzige Hand. Das silberne Schluchzen ertönte in seinen Ohren, so konstant und so grauenhaft leer; die weinende Stimme eines von Geburt an Schwachsinnigen.

Dann waren sie durch.

Kaum hatten sie den hölzernen Bogen auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes passiert (WIR SIND ZUM RENNEN IM BASSEY PARK! stand auf der Rundung geschrieben), zog Ralph Lois zu einer Bank und ließ sie sich setzen, obwohl sie vehement darauf beharrte, daß es ihr gut gehe.

»Gut. Aber ich brauche einen Moment, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe.«

Sie strich eine Haarlocke aus seiner Schläfe und hauchte einen sanften Kuß auf die Vertiefung darunter. »Laß dir soviel Zeit, wie du brauchst, Liebling.«

Das waren, wie sich herausstellte, fünf Minuten. Als er hinreichend sicher war, daß er aufstehen konnte, ohne in den Knien einzuknicken, nahm Ralph wieder ihre Hand, und sie erhoben sich gemeinsam.

»Hast du sie gefunden, Ralph? Hast du seine Spur gefunden?«

Er nickte. »Damit wir sie sehen können, müssen wir zwei Sprünge nach oben machen. Zuerst habe ich versucht, nur soweit aufzusteigen, daß ich die Auren sehen kann, weil dann nicht alles schneller abzulaufen scheint, aber das hat nicht geklappt. Es muß ein wenig höher sein.«

»Gut.«

»Aber wir müssen vorsichtig sein. Denn wenn wir sehen können

»Können wir auch gesehen werden. Ja. Und wir dürfen auch nicht vergessen, daß die Zeit verrinnt.«

»Auf gar keinen Fall. Bist du bereit?«

»Fast. Ich glaube, vorher brauche ich noch einen Kuß. Ein kleiner würde schon genügen.«

Er lächelte und gab ihr einen.

»Jetzt bin ich bereit.«

»Okay - gehen wir.«

Blinzel

Die rötlichen Farbflecken führten sie über den Bereich gestampfter Erde, wo während der Kirmeswoche die Mittelstraße verlief, dann zur Rennbahn, wo von Mai bis September Trabrennen stattfanden. Lois stand einen Moment vor dem brusthohen Bretterzaun, sah sich um und vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war, und dann zog sie sich hoch. Zuerst bewegte sie sich so behende wie ein junges Mädchen, aber als sie ein Bein auf die andere Seite geschwungen hatte und breitbeinig auf dem Zaun saß, hielt sie inne. Ein Ausdruck von Überraschung und Mißfallen beherrschte ihr Gesicht.

[»Lois? Alles in Ordnung?«]

[»Ja, bestens. Es ist meine verfluchte alte Unterwäsche! Ich muß abgenommen haben, weil sie einfach nicht bleiben will, wo sie hingehört! Um Himmels willen!«]

Ralph stellte fest, daß er nicht nur den Spitzensaum von Lois' Slip sehen konnte, sondern acht oder neun Zentimeter rosa Nylon. Er unterdrückte ein Grinsen, während sie auf der breiten Abschlußplanke des Zauns saß und an dem Stoff zerrte. Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß sie niedlicher als ein kleines Kätzchen aussah, entschied aber, daß das wahrscheinlich keine so gute Idee wäre.

[»Dreh dich gefälligst um, bis ich diesen verdammten Slip wieder richtig anhabe, Ralph. Und hör auf, so albern zu grinsen.«]

Er drehte ihr den Rücken zu und sah zum Bürgerzentrum. Wenn er gegrinst hätte (er hielt es für wahrscheinlicher, daß sie seiner Aura das Grinsen angesehen hatte), hätte der Anblick des dunklen, langsam kreisenden Leichentuchs ihm dies ziemlich schnell ausgetrieben.

[»Lois, vielleicht wäre es einfacher, wenn du ihn ausziehen würdest.«]

[»Bitte vielmals um Entschuldigung, Ralph Roberts, aber ich gehöre nicht zu den Frauen, die ihre Unterwäsche ausziehen und auf Rennbahnen herumliegen lassen, und wenn du jemals ein Mädchen gekannt hast, das das getan hat, dann hoffentlich bevor du Carolyn kennengelernt hast. Ich wünschte nur, ich hätte eine -«]

Das undeutliche Bild einer glänzenden Sicherheitsnadel in Ralphs Kopf.

[»Ich nehme nicht an, daß du eine hast, Ralph, oder?«]

Er schüttelte den Kopf und schickte selbst ein Bild zurück: Sand, der durch ein Stundenglas rieselte.

[»Schon gut, ich hab verstanden. Ich denke, ich hab es soweit hingekriegt, daß es zumindest noch eine Weile hält. Du kannst dich jetzt wieder umdrehen.«]

Er gehorchte. Sie ließ sich auf der anderen Seite des Zauns herunter, und zwar mit müheloser Selbstsicherheit, aber ihre Aura war sichtlich blasser geworden, und Ralph konnte wieder dunkle Ringe unter ihren Augen sehen. Die Revolution der Unterbekleidung war im Keim erstickt worden, jedenfalls vorübergehend.

Ralph zog sich hoch, schwang ein Bein über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite herunter. Es gefiel ihm, was er dabei empfand - alte, längst vergessene Erinnerungen schienen tief in seinen Zellen zu erwachen.

[»Wir müssen Energie tanken, bevor wir wieder emporsteigen, Lois.«]

Lois nickte resigniert: [»Ich weiß. Komm, gehen wir.«]

Sie folgten der Spur über die Rennbahn, kletterten über einen zweiten Bretterzaun und schlitterten dann einen überwucherten Hang zur Neibolt Street hinunter. Ralph sah, wie Lois durch ihren Rock verbissen den Slip hochhielt, während sie sich den Hang hinabquälten, und überlegte noch einmal, ob sie nicht besser dran wäre, wenn sie das verfluchte Ding einfach ausziehen würde, aber dann beschloß er erneut, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Wenn es sie ausreichend störte, würde sie es auch ohne weitere Anregung von ihm tun.