Выбрать главу

Ralphs größte Sorge - daß Atropos' Spur einfach verschwinden würde - erwies sich als unbegründet. Die blassen rosa Flecken führten zwischen ungestrichenen Mietshäusern, die man schon vor Jahren hätte abreißen sollen, direkt zur unebenen und löchrigen Oberfläche der Neibolt Street hinunter. Zerrissene Wäschestücke flatterten an durchhängenden Leinen; die Autos, die am Bordstein parkten (in diesem Teil von Derry gab es keine Einfahrten oder Garagen), waren alt, rostig und größtenteils verdreckt. Schmutzige Kinder mit Rotznasen sahen von verstaubten Vorgärten aus hinter ihnen her. Einbildhübscher, etwa dreijähriger Junge mit zerzaustem Haar betrachtete sie zutiefst argwöhnisch von der Treppenstufe seiner Veranda, dann griff er sich mit einer Hand zwischen die Beine und machte mit dem Mittelfinger der anderen eine obszöne Geste.

Die Neibolt Street endete als Sackgasse am alten Bahnhofsgelände, und da verloren Ralph und Lois die Spur vorübergehend aus den Augen. Sie standen vor einem der Sägeböcke, mit denen ein uraltes, rechteckiges Kellerloch blockiert wurde - mehr war von dem alten Passagierbahnhof nicht mehr übrig -, und ließen die Blicke über den großen Halbkreis eines völlig verwilderten Brachgrundstücks schweifen. Rostrote Rangiergleise lugten unter einem Dickicht aus Sonnenblumen und Dornenranken hervor; Scherben von hundert zertrümmerten Flaschen funkelten im nachmittäglichen Sonnenlicht. Auf der Seite des alten Schuppens für die Dieselloks waren mit greller, pinkrosa Leuchtfarbe die Worte geschrieben: SUZY HAT MEIN DICKES ROHR GELUTSCHT. Diese sentimentale Botschaft stand in einem Kreis aus tanzenden Hakenkreuzen.

Ralph: [»Verdammt, wohin ist er gegangen?«]

[»Da unten, Ralph - siehst du?«]

Sie deutete auf das, was bis 1963 die Hauptverkehrsader gebildet hatte, heute aber nur ein rostiges Gleis unter vielen war, die ins Nichts führten. Sogar die meisten Schwellen waren verschwunden; sie waren entweder von den hiesigen Pennern als Lagerfeuer verbrannt worden, oder von Wanderarbeitern auf dem Weg zu den Kartoffelfeldern von Aroostook County und den Apfelhainen oder Fischgründen der Maritimes. Auf einer der wenigen verbliebenen Schwellen sah Ralph Flecken der rosa Sporen. Sie sahen frischer aus als die, denen sie in der Neibolt Street nachgegangen waren.

Er folgte dem Verlauf der halb verdeckten Schienen und versuchte, sich zu erinnern. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, führte dieses Gleis um den städtischen Golfplatz herum zurück zur... nun, zurück zur West Side. Ralph vermutete, daß dies dasselbe stillgelegte Gleis war, das am Rand des Flughafens und an dem Picknickgelände vorbeiführte, wo Faye Chapin in diesem Augenblick möglicherweise über die Aufstellung des bevorstehenden Startbahn Drei Classic brütete.

Alles ist ein großer Kreis, dachte er. Wir haben fast drei verfluchte Tage gebraucht, aber ich glaube, letzten Endes werden wir wieder genau dort landen, wo wir angefangen haben... nicht im Paradies, sondern in der Harris Avenue.

»Hallo Leute! Was treibt ihr'n hier?«

Ralph glaubte fast, daß er die Stimme kannte, und dieser Eindruck wurde verstärkt, als er den Mann ansah, dem sie gehörte. Er stand hinter ihnen an der Stelle, wo der Bürgersteig der Neibolt Street schließlich den Geist aufgab. Er sah aus wie fünfzig, aber Ralph schätzte, daß er in Wirklichkeit fünf, vielleicht sogar zehn Jahre jünger sein konnte. Er trug ein Sweatshirt und alte, zerschlissene Jeans. Die Aura, die ihn umgab, war so grün wie ein Glas St. Patrick's Day Bier. Das half Ralph endgültig auf die Sprünge. Es war der Penner, der ihn und Bill an dem Tag angesprochen hatte, als er Bill im Strawford Park fand, wo er wegen seines alten Freundes Bob Polhurst weinte... der ihn, wie sich herausstellte, doch noch überlebt hatte. Manchmal war das Leben komischer als Groucho Marx.

Ein eigentümliches Gefühl von Fatalismus stahl sich über Ralph, und damit einher ging ein intuitives Begreifen der Mächte, die sie nun umgaben. Er hätte darauf verzichten können. Es spielte kaum eine Rolle, ob diese Mächte gut oder böse waren, Plan oder Zufall; sie waren gigantisch, darauf kam es an, und vor ihnen wirkte alles, was Klotho und Lachesis über freie Entscheidung und freien Willen gesagt hatten, wie ein Witz. Ihm kam es so vor, als wären er und Lois mit Stricken an die Speichen eines gigantischen Rads gefesselt - eines Rads, das sie dorthin zurückrollte, woher sie gekommen waren, während es sie zugleich immer tiefer und tiefer in diesen schrecklichen Tunnel führte.

»Hamse 'n bißchen Kleingeld übrig, Mister?«

Ralph sank ein kleines Stück herunter, damit der Penner ihn auch bestimmt hören konnte, wenn er sprach.

»Ich wette, Ihr Onkel hat Sie aus Dexter angerufen«, sagte Ralph. »Hat Ihnen gesagt, Sie könnten Ihren alten Job in der Fabrik wiederhaben... aber nur, wenn Sie heute noch dort aufkreuzen. Kommt das in etwa hin?«

Der Penner sah ihn überrascht und argwöhnisch blinzelnd an. »Nun... ja. So was in der Art.« Er suchte nach der Geschichte -die er wahrscheinlich inzwischen selbst mehr glaubte als alle, denen er sie erzählt hatte - und fand ihren zerschlissenen Faden wieder. »Iss'n guter Job, wissense? Und ich könnt ihn wiederha'm. Um zwei fährt'n Bus von Bangor nach Aroostook, kost aber fünffuffzich, uns bis jetzt hab ich nur'n Vierteldollar -«

»Sechsundsiebzig Cent haben Sie«, sagte Lois. »Zwei Vierteldollarmünzen, zwei Dimes, einen Nickel und einen Penny. Aber wenn man bedenkt, wieviel Sie trinken, sieht Ihre Aura überraschend gesund aus, das kann ich Ihnen sagen. Sie müssen die Konstitution eines Ochsen haben.«

Der Penner warf ihr einen verwirrten Blick zu, dann wich er einen Schritt zurück und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab.

»Keine Bange«, beruhigte Ralph ihn, »meine Frau sieht überall Auren. Sie ist eine ausgesprochen spirituelle Person.«

»Tatsache?«

»Hm-hmm. Außerdem ziemlich großzügig, und ich glaube, sie hat was Besseres als nur ein bißchen Kleingeld für Sie. Richtig, Alice?«

»Er wird es nur versaufen«, sagte sie. »Es gibt keinen Job in Dexter.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Ralph und faßte sie scharf ins Auge, »aber seine Aura sieht extrem gesund aus. Extrem.«

»Schätze, Sie ha'm auch Ihre spirituelle Ader, was?-«-sagte der Penner. Sein Blick glitt immer noch argwöhnisch zwischen Ralph und Lois hin und her, aber jetzt flackerte schwache Hoffnung in seinen Augen.

»Wissen Sie, das stimmt«, sagte Ralph. »Und die ist in letzter Zeit so richtig aufgeblüht.« Er schürzte die Lippen, als wäre ihm gerade ein interessanter Gedanke gekommen, und atmete ein. Ein hellgrüner Lichtstrahl schoß aus der Aura des Penners, überquerte die drei Meter zwischen ihm und Lois und drang in Ralphs Mund ein. Der Geschmack war deutlich und sofort zu identifizieren: Boone's Farm Apfelwein. Rauh und derb, aber dennoch irgendwie angenehm - das Funkeln eines Arbeiters haftete ihm an. Mit dem Geschmack stellte sich auch ein Gefühl der Kraft ein, das war gut, außerdem eine scharf umrissene Klarheit des Denkens, und das war noch besser.

Inzwischen hielt Lois ihm einen Zwanzigdollarschein hin. Der Penner sah ihn aber nicht gleich; er sah stirnrunzelnd zum Himmel hinauf. In dem Moment schoß ein zweiter hellgrüner Strahl aus seiner Aura. Er schoß wie der gleißende Lichtstrahl einer Taschenlampe über das Unkraut neben dem Kellerloch und verschwand in Lois' Mund und Nase. Der Geldschein in ihrer Hand zitterte kurz.

[»O Gott, das ist so gut! Schmeckt wie der Wein, den Paul immer getrunken hat, wenn er sich Samstag abends die Red Sox angesehen hat!«]

»Gottverdammte Düsenjäger von der Charleston Air Force Base!« schrie der Penner mißbilligend. »Solln die Schallmauer erst durchbrechen, wenn sie draußen über'm Meer sind! Ich hab mir fast in die Hose -« Sein Blick fiel auf den Geldschein zwischen Lois' Fingern, und das Stirnrunzeln wurde noch tiefer. »Jetzt aber, wollnse mich verscheißern, oder was? Ich bin nich' dumm, wissense. Ich trink vielleicht ab und zu mal gern einen, aber das macht mich noch lang nich' dumm.«