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Windstöße trugen einen ekelhaften, fauligen Geruch aus unmittelbarer Nähe herbei, und aus etwas größerer Entfernung die Stimme von Faye Chapin, der jemandem mit seinem Lieblingsthema auf den Geist ging: »... was ich immer sage! Mah-jongg ist wie Schach, Schach ist wie das Leben, wenn man also eins von beiden spielen kann -« Der Wind legte sich wieder. Ralph konnte Fayes Stimme immer noch hören, wenn er die Ohren spitzte, aber die einzelnen Worte bekam er nicht mehr mit. Aber das machte nichts. Er hatte die Ansprache oft genug gehört und wußte ziemlich gut, wie sie ging. [»Ralph, dieser Gestank ist gräßlich! Oder etwa nicht?«] Er nickte, glaubte aber nicht, daß Lois ihn sah. Sie hielt seine Hand fest zwischen ihren beiden und sah mit großen Augen starr geradeaus. Die fleckige Spur, die vor den Türen des Bürgerzentrums angefangen hatte, endete sechzig Meter entfernt am Stamm einer windschiefen abgestorbenen Eiche. Die Ursache dafür, daß der Baum abgestorben war und nun so schief dastand, war offensichtlich: Eine Seite des stattlichen Relikts war von einem Blitz wie eine Banane geschält worden. Die Risse und Furchen und Wölbungen der grauen Rinde schienen die Umrisse halb versunkener Gesichter zu bilden, die lautlose Schreie ausstießen, und der Baum streckte die nackten Äste wie grimmige Schriftzeichen in den Himmel... sie hatten, jedenfalls in Ralphs Phantasie, eine unheimliche Ähnlichkeit mit den japanischen Schriftzeichen für Kamikaze. Der Blitz, der das Ende des Baums besiegelt hatte, hatte ihn nicht umwerfen können, aber er hatte sich auf jeden Fall größte Mühe gegeben. Der Teil des verzweigten Wurzelsystems Richtung Flughafen war aus dem Boden herausgerissen worden. Diese Wurzeln waren unter dem Maschendrahtzaun hindurchgewachsen und hatten ihn ein Stück weit in die Höhe gedrückt, eine glockenförmige Kurve, bei deren Anblick Ralph zum erstenmal seit Jahren an einen Freund aus Kindertagen namens Charles Engstrom denken mußte.

»Spiel nicht mit Chuckie«, pflegte Ralphs Mutter zu sagen. »Er ist ein schmutziger Junge. Ralph wußte nicht, ob Chuckie ein schmutziger Junge war oder nicht, aber er war total Banane, das stand fest. Chuckie Engstrom versteckte sich gerne mit einem langen Zweig, den er seinen »Spickestab« nannte, hinter dem Baum im Vorgarten seines Hauses. Wenn eine Frau im Rock vorbeikam, schlich Chuckie ihr auf Zehenspitzen hinterher, steckte den Zweig unter den Rocksaum und hob ihn hoch. Meistens konnte er die Farbe der Unterwäsche erkennen (die Farbe von Damenunterwäsche faszinierte Chuckie ungeheuer), bis ihnen klar wurde, was vor sich ging, und sie den hysterisch kichernden Jungen bis zu seinem Haus verfolgten und drohten, sie würden es seiner Mutter erzählen. Der Flughafenzaun, den die Wurzeln der alten Eiche aus dem Boden gezogen und nach oben gedrückt hatten, erinnerte Ralph daran, wie die Röcke von Chuckies Opfern ausgesehen hatten, wenn er sie mit seinem Spickestab hochgehoben hatte.

[»Ralph?«]

Er sah sie an.

[»Wer ist Biggy Stab? Und warum denkst du ausgerechnet jetzt an sie?«]

Ralph prustete vor Lachen.

[»Hast du das in meiner Aura gesehen?«]

[»Wahrscheinlich - ich kann es nicht mehr sagen. Wer ist sie?«]

[»Erzähl ich dir ein andermal. Komm jetzt.«]

Er nahm ihre Hand, dann gingen sie langsam auf die Eiche zu, wo Atropos' Spur aufhörte, und in den immer stärkeren Fäulnisgeruch hinein, der seine Duftnote war.

Kapitel 25

Sie standen am Fuß der Eiche und sahen nach unten. Lois nagte zwanghaft an ihrer Unterlippe.

[»Müssen wir da runter, Ralph? Müssen wir wirklich?«]

[»Ja.«]

[»Aber warum? Was sollen wir tun? Atropos aussperren? Den Bau niederbrennen? Etwas zurückholen, das er gestohlen hat? Ihn töten? Was?«]

Er wußte es nicht davon abgesehen, daß er Joes Kamm und Lois' Ohrringe wiederhaben wollte... aber er war sicher, er würde es wissen, sie beide würden es wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen war.

[»Ich glaube, im Augenblick sollten wir einfach nur in Bewegung bleiben, Lois.«]

Der Blitz hatte wie eine kräftige Hand gewirkt, den Baum brutal nach Osten gestoßen und gleichzeitig ein klaffendes Loch am Wurzelansatz der Westseite gerissen. Für einen Mann oder eine Frau mit dem Sehvermögen der Kurzfristigen hätte dieses Loch zweifellos dunkel ausgesehen - und mit seinen abbröckelnden Rändern und den kaum sichtbaren Wurzeln, die sich im Inneren wanden wie Schlangen, vielleicht ein wenig furchteinflößend, aber ansonsten nicht besonders ungewöhnlich.

Ein Kind mit einer ausgeprägten Phantasie würde vielleicht mehr sehen, dachte Ralph. Der dunkle Raum unter dem Baumstamm weckt vielleicht Gedanken an Piratenschätze... Verstecke von Banditen... die Höhle eines Trolls...

Aber Ralph glaubte, daß nicht einmal das phantasievollste Kind das düstere rote Leuchten würde sehen können, das unter dem Baum hervordrang, oder daß die zuckenden Wurzeln in Wirklichkeit holperige Sprossen waren, die an einen unbekannten (und zweifellos unerfreulichen) Ort hinabführten.

Nein - nicht einmal ein phantasievolles Kind würde das sehen... aber möglicherweise spüren.

Richtig. Und wenn es genügend Verstand hatte, würde es weglaufen als wären ihm sämtliche Dämonen der Hölle auf den Fersen. Wie er und Lois, wenn sie der Vernunft gehorchen würden. Wären da nicht Lois' Ohrringe. Wäre da nicht Joe Wyzers Kamm. Wäre da nicht sein eigener verlorener Platz im Plan. Und wären da selbstverständlich nicht Helen (und möglicherweise Nat) und die zweitausend anderen, die sich heute abend im Bürgerzentrum aufhalten würden. Lois hatte recht. Sie mußten etwas tun, und wenn sie jetzt kniffen, würde dieses Etwas für immer ungeschehenes Geschehen bleiben.

Und das sind die Seile, dachte er. Die Seile, mit denen die Mächtigen uns arme, verwirrte kurzfristige Kreaturen an ihr Rad fesseln.

Er stellte sich Klotho und Lachesis nun durch eine helle Linse des Hasses vor, und er dachte, wenn die beiden jetzt hier wären, hätten sie einen ihrer unsicheren Blicke gewechselt und wären einen Schritt oder zwei zurückgewichen.

Und dazu hätten sie einen Grund gehabt, dacht er. Allen Grund.

[»Ralph? Was ist los? Warum bist du so wütend?«]

Er hob ihre Hand an die Lippen und küßte sie.

[»Nichts weiter. Komm mit. Gehen wir, bevor wir den Mut verlieren.«]

Sie sah ihn noch einen Moment an, dann nickte sie. Und als Ralph die Beine in das klaffende, mit Wurzeln eingefaßte Loch am Fuß des Baums steckte, war sie direkt neben ihm.

Ralph rutschte auf dem Rücken unter den Baum und hielt die freie Hand vor das Gesicht, damit ihm keine Erde in die offenen Augen fiel. Er versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn Wurzeln ihm über den Hals strichen oder sich ihm in den Rücken bohrten. Der Geruch unter dem Baum war so durchdringend, daß man ihn fast greifen konnte, ein abstoßender Affenhausgestank, bei dem einem kotzübel wurde. Er konnte sich einreden, daß er sich daran gewöhnen würde, bis er ganz unter dem Loch in der Eiche war, doch dann ging es nicht mehr. Er stützte sich auf einen Ellbogen und spürte, wie kleinere Wurzeln nach seiner Kopfhaut griffen und baumelnde Rindenstücke ihm die Wangen streichelten, und dann gab er das gesamte Frühstück von sich, das sich noch im Vorratstank befand. Er konnte hören, wie Lois links von ihm seinem Beispiel folgte.

Eine schrecklicher, von Schwindel begleiteter Schwächeanfall schlug über ihm zusammen wie eine Welle am Strand. Der Gestank war so überwältigend, daß er ihn fast zu essen schien, und er konnte die rote Substanz, der sie zu diesem Ort des Grauens unter dem Baum gefolgt waren, überall auf seinen Händen und Armen sehen. Es war schlimm gewesen, das Zeug nur anzusehen; jetzt badete er regelrecht darin, um Gottes willen.

Etwas griff nach seiner Hand, und er ließ sich fast von seiner Panik überwältigen, bis ihm klar wurde, daß es Lois war. Er verschränkte seine Finger mit ihren.