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[»Ralph, du mußt ein Stückchen emporsteigen! Dann ist es besser! Du kannst atmen!«]

Er begriff sofort, was sie meinte, und mußte sich zurückhalten, sich im letzten Moment wieder tiefer sinken lassen. Hätte er das nicht getan, wäre er wie eine Rakete mit vollem Schub die Leiter der Wahrnehmung hinaufgeschossen.

Die Welt flackerte, und plötzlich schien etwas mehr Licht in diesem stinkenden Loch zu sein... und auch etwas mehr Platz. Der Geruch verschwand nicht, aber er wurde erträglich. Jetzt war es, als hielte man sich in einem kleinen Zelt voller Leute mit schmutzigen Füßen und Achselschweiß auf - nicht angenehm, aber man konnte damit leben, jedenfalls eine Weile.

Ralph stellte sich plötzlich das Zifferblatt einer Taschenuhr vor, deren Zeiger sich rasch bewegten. Ohne den erstickenden Geruch war es besser, aber dennoch blieb es ein gefährlicher Aufenthaltsort - angenommen, sie kämen erst morgen früh hier wieder heraus, und das Bürgerzentrum wäre nur noch ein rauchendes Loch an der Main Street? Und das war nicht ausgeschlossen. Hier unten war es unmöglich, die Zeit zu messen - kurzfristig, langfristig oder wie auch immer. Der Gedanke an sich war ein Witz.

Laß gut sein, Ralph-du kannst nichts dagegen tun, und du mußt atmen, also laß es gut sein.

Er versuchte es, und dabei fiel ihm ein, daß der alt Dor am Tag, als Ed mit dem Lastwagen von Mr. West Side Gardeners zusammengestoßen war, hundertprozentig recht gehabt hatte; es war besser, sich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Und doch waren sie hier, der älteste Peter Pan und die älteste Wendy der Welt, und glitten unter einem verzauberten Baum in eine schleimige Unterwelt hinab, die keiner von ihnen sehen wollte.

Lois sah ihn an, das widerliche rote Leuchten erhellte ihr Gesicht, und ihre Augen blickten ängstlich umher. Er sah dunkle Spuren auf ihrem Bonn und stellte fest, daß es sich um Blut handelte. Sie nagte nicht mehr nur an ihrer Unterlippe, sie biß regelrecht hinein.

[»Ralph, alles in Ordnung?«]

[»Ich kann mit einem hübschen Mädchen unter eine alte Eiche kriechen, und da fragst du noch? Mir geht es bestens, Lois. Aber ich denke, wir sollten uns besser beeilen.«]

[»Gut.«]

Er tastete unter sich herum und stellte den Fuß auf eine knorrige Eichenwurzel. Sie hielt sein Gewicht aus, und er ließ sich den steinigen Hang hinunterrutschen, zwängte sich unter einer weiteren Wurzel durch und hielt Lois dabei um die Taille gefaßt. Ihr Rock rutschte bis zu den Oberschenkeln hoch, und Ralph mußte wieder kurz an Chuckie Engstrom und seinen Spickestab denken. Er stellte amüsiert und verärgert zugleich fest, daß Lois sich bemühte, den Rock wieder nach unten zu ziehen.

[»Ich weiß, daß eine Dame nach Möglichkeit immer versucht, den Rock unten zu lassen, aber ich glaube, wenn man unter alten Eichen in Trollhöhlen hinabrutscht, geht diese Regel über Bord. Okay?«]

Sie schenkte ihm ein verlegenes, ängstliches Lächeln.

[»Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, hätte ich Hosen angezogen. Ich dachte, wir würden nur ins Krankenhaus gehen.«]

Wenn ich gewußt hätte, was wir vorhaben, dachte Ralph, hätte ich meine Aktien verkauft, sich abzeichnende Baisse am Aktienmarkt hin oder her, und hätte uns zwei Flugtickets nach Rio gekauft, Teuerste.

Er tastete mit einem Fuß umher, weil er wußte, wenn er abrutschte, würde er wahrscheinlich an einem Ort weit außerhalb der Reichweite der Ambulanzen von Derry landen. Direkt vor seinen Augen kam ein rötlicher Wurm aus dem Boden und ließ kleine Erdkrümel auf Ralphs Stirn rieseln.

Scheinbar eine Ewigkeit lang spürte er nichts, dann fand sein Fuß glattes Holz - diesmal keine Wurzel, sondern so etwas wie eine richtige Stufe. Er rutschte nach unten, ohne Lois' Taille loszulassen, und wartete, ob das Ding, worauf er stand, unter ihrer beider Gewicht zerbrechen würde.

Es hielt und war breit genug für sie beide. Ralph sah nach unten und stellte fest, daß es sich um die oberste Stufe einer schmalen Treppe handelte, die in eine rot getönte Dunkelheit hinabführte. Sie war für ein - und möglicherweise von einem -Geschöpf gebaut worden, das viel kleiner als sie selbst war, weshalb sie sich ducken mußten, aber es war immer noch besser als der Alptraum der letzten Augenblicke.

Ralph sah Tageslicht durch das gezackte Loch über ihnen, und seine Augen schauten mit einem Ausdruck dümmlicher Sehnsucht aus seinem schmutzigen, schweißüberströmten Gesicht. Das Tageslicht war ihm noch nie so verlockend und so fern vorgekommen. Er drehte sich zu Lois um und nickte ihr zu. Sie drückte seine Hand und erwiderte das Nicken. Gebückt und jedesmal zusammenzuckend, wenn eine herabhängende Wurzel ihnen über die Hälse strich, gingen sie die Treppe hinunter.

Der Abstieg schien endlos zu sein. Das rote Licht wurde heller, der Gestank von Atropos durchdringender, und Ralph stellte fest, daß sie beide »emporstiegen«, während sie nach unten gingen; ihnen blieb keine andere Wahl, wenn sie nicht von dem Gestank überwältigt werden wollten. Er redete sich immer wieder ein, daß sie nur taten, was sie tun mußten, daß bei einem Unternehmen dieser Bedeutung jemand den Zeitplan im Auge behalten würde -jemand, der ihnen einen Stoß versetzte, wenn es zu knapp wurde -, aber Sorgen machte er sich trotzdem. Denn möglicherweise gab es keinen mit einer Stoppuhr, keinen Unparteiischen oder Linienrichter in Zebrastreifenhemden. Alles ist offen, hatte Klotho gesagt.

Als Ralph sich gerade fragte, ob die Treppe bis in die Hölle hinunterführte, hörte sie auf. Ein kurzer, gemauerter Korridor, nicht höher als ein Meter zwanzig und etwa sechs Meter lang, führte zu einem Torbogen. Dahinter flackerte und pulsierte das rote Leuchten wie der Widerschein eines Brennofens.

[»Komm mit Lois, aber rechne mit allem. Rechne mit ihm.«]

Sie nickte, zog ihren rutschenden Slip wieder hoch und ging neben ihm den schmalen Flur entlang. Ralph trat gegen etwas, das kein Stein war, und bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein roter Plastikzylinder, an einem Ende breiter als am anderen. Nach einem Moment wurde ihm klar, worum es sich handelte: um den Griff eines Springseils. Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein.

Misch dch in nichts ein, was dich nichts angeht, Kurzfristiger, hatte Atropos gesagt, aber er hatte sich eingemischt, und nicht nur deswegen, was die kleinen kahlköpfigen Ärzte Ka nannten. Er hatte sich eingemischt, weil ihn doch etwas anging, was der kleine Dreckskerl vorhatte, auch wenn dieser das Gegenteil denken mochte. Derry war seine Stadt, Lois Chasse war seine Freundin, und Ralph verspürte den aufrichtigen Wunsch in sich, Doc Nr. 3 dafür büßen zu lassen, daß er Lois' Diamantohrringe genommen hatte.

Er warf den Griff des Springseils weg und ging weiter. Einen Augenblick später gingen er und Lois unter dem Torbogen durch, blieben wie angewurzelt stehen und sahen in Atropos' unterirdische Behausung. Mit den ineinander verschränkten Händen und den aufgerissenen Augen sahen sie mehr denn je wie Kinder in einem Märchen aus - nicht wie Peter Pan und Wendy, sondern wie Hansel und Gretel, die nach tagelangem Herumirren im dichten Wald das Knusperhaus der Hexe gefunden hatten.

[»Oh, Ralph. O mein Gott, Ralph... siehst du das?«]

[»Pssst, Lois.«]

Direkt vor ihnen lag eine kleine, finstere Kammer, die Küche und Schlafzimmer in einem zu sein schien. Der Raum wirkte schmutzig und unheimlich zugleich. In der Mitte stand ein niederer runder Tisch, bei dem es sich, wie Ralph annahm, um das abgesägte Oberteil eines Fasses handelte. Die Überreste einer Mahlzeit - ein grauer, ranziger Brei, der wie aufgelöste Hirnmasse aussah, die in einer gesprungenen Suppenterrine gerann - stand darauf. Es gab einen einzigen schmutzigen Klappstuhl. Rechts vom Tisch stand eine primitive Kommode, die aus einer rostigen Stahltonne bestand, auf der eine Toilettenschüssel balancierte. Ein unvorstellbar übler Gestank ging davon aus. Einziger Schmuck des Zimmers war ein Spiegel mit Messingrahmen an einer Wand, dessen Oberfläche durch das Alter so nachgedunkelt und beschlagen war, daß Ralph und Lois darin aussahen, als würden sie drei Meter unter der Wasseroberfläche treiben.