Выбрать главу

[»Lois, hast du eine Ahnung, was -«]

[»Pssst.«]

[»Was ist, Lois? Ist er es?«]

[»Nein! Sei still, Ralph! Sei still und hör zul.«]

Er lauschte. Zuerst hörte er nichts, und dann spürte er wieder das zuckende Gefühl - das Blinzeln - im Kopf. Diesmal war es sehr langsam und vorsichtig. Er stieg ein wenig weiter empor, so leicht wie eine Feder in einem warmen Aufwind. Er bemerkte ein langgezogenes, leises Stöhnen, wie eine endlos quietschende Tür. Es hatte etwas Vertrautes an sich - nicht das Geräusch selbst, aber die damit verbundenen Assoziationen. Es war wie - ein Einbruchalarm oder möglicherweise ein Rauchdetektor. Es sagt uns, wo es ist. Es ruft uns.

Lois ergriff seine Hand mit eiskalten Fingern.

[»Das ist es, Ralph-das ist es, wonach wir suchen. Hörst du es?«]

Ja, er hörte es. Selbstverständlich. Aber was immer das Geräusch auch sein mochte, es hatte nichts mit Lois' Ohrringen zu tun... und ohne Lois' Ohrringe würde er hier nicht weggehen.

Das hoffst du, Liebling, antwortete die Carolyn in seinem Kopf. Das hoffst du.

Ja. Das hoffte er.

[»Komm schon, Ralph! Komm mit! Wir müssen es finden!«]

Er ließ sich von ihr tiefer in den Raum führen. An den meisten Stellen waren die Andenken von Atropos mehr als einen Meter über ihre Köpfe hinaus gestapelt. Ralph hatte keine Ahnung, wie ein Wurzelzwerg wie er das bewerkstelligen konnte -möglicherweise durch Levitation -, aber als Folge davon verlor Ralph bald die Orientierung, als sie sich hindurchzwängten, abbogen und manchmal auf den Weg zurückzugehen schienen, den sie gerade eingeschlagen hatten. Er wußte nur mit Sicherheit, daß das klägliche Stöhnen lauter wurde; je mehr sie sich dem Ursprung näherten, desto mehr glich es einem insektenhaften Summen, das Ralph immer unangenehmer fand. Er rechnete damit, daß er um eine Ecke biegen und vor einer riesigen Heuschrecke stehen würde, die ihn mit dunkelbraunen Augen so groß wie Grapefruits ansah.

Die unterschiedlichen Auren der Gegenstände in diesem Lagerhaus waren zwar verblaßt wie der Duft zwischen den Seiten eines Buchs gepreßter Blüten, aber unter dem Gestank von Atropos existierten sie noch, und auf dieser Stufe der Wahrnehmung, wo ihre sämtlichen Sinne hellwach und empfänglich waren, war es unmöglich, sie nicht zu spüren und von ihnen beeinflußt zu sein. Die stummen Erinnerungen an die Opfer des Zufalls waren schrecklich und mitleiderregend zugleich. Ralph wurde klar, daß dieser Ort hier mehr als ein Museum oder der Bau einer Packratte war; er war eine profane Kirche, wo Atropos seine Version des Abendmahls einnahm -Kummer statt Brot, Tränen statt Wein.

Ihr Hindernislauf durch die schmalen, zickzackförmigen Reihen war ein schreckliches, zermürbendes Erlebnis. Hinter jeder nicht ganz ziellosen Biegung warteten hundert weitere Objekte, von denen Ralph wünschte, er hätte sie nie gesehen und würde sich nie daran erinnern; jedes verlieh seinem eigenen leisen Aufschrei des Schmerzes und der Bestürzung Ausdruck. Er mußte sich nicht fragen, ob Lois seine Empfindungen teilte - sie schluchzte in einem fort leise neben ihm.

Da war der zerschrammte Flexible-Flyer-Schlitten eines Kindes, an dessen Lenkstange noch das Seil zum Ziehen geknotet war. Der Junge, dem er gehört hatte, war an einem kalten Januartag des Jahres 1953 an Krämpfen gestorben.

Da lag der Tambourstab einer Majorette, dessen Schaft in purpurne und weiße Kreppspiralen gewickelt war - die Farben der Grant Academy. Sie war im Herbst 1967 vergewaltigt und mit einem Stein totgeschlagen worden. Ihr Mörder, den man nie gefaßt hatte, hatte den Leichnam in eine kleine Höhle geschafft, wo ihre Gebeine - zusammen mit denen von zwei weiteren unglücklichen Opfern - immer noch lagen.

Hier lag die Kameenbrosche einer Frau, die von einem herabfallenden Ziegelstein erschlagen worden war, als sie die Main Street entlang ging, um die neueste Ausgabe von Vogue zu kaufen; hätte sie ihr Haus dreißig Sekunden früher oder später verlassen, wäre ihr nichts geschehen.

Dort lag der Hirschfänger eines Mannes, der 1937 bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war.

Da der Kompaß eines Pfadfinders, der bei einem Ausflug auf den Mount Katahdin gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte.

Der Turnschuh eines kleinen Jungen namens Gage Creed, den ein zu schnell fahrender Tanklaster auf der Route 15 in Ludlow überfahren hatte.

Ringe und Zeitschriften; Schlüsselanhänger und Regenschirme; Hüte und Brillen; Rasseln und Radios. Alle sahen verschieden aus, aber für Ralph waren sie ausnahmslos eines: die schwachen, kläglichen Stimmen von Menschen, die in der Mitte des zweiten Akts aus dem Drehbuch gestrichen worden waren, während sie noch ihren Text für den dritten lernten; Menschen, die ohne große Umstände abgeholt worden waren, bevor ihre Arbeit getan oder ihre Verpflichtungen erfüllt waren; Menschen, deren einziges Verbrechen es war, unter dem Stern des Zufalls geboren worden zu sein... und die Aufmerksamkeit des Irren mit dem rostigen Skalpell auf sich gelenkt zu haben.

Lois, schluchzend: [»Ich hasse ihn! Ich hasse ihn so sehr!«]

Er wußte, was sie meinte. Es war eines, Klotho und Lachesis zuzuhören, wenn sie sagten, daß Atropos ebenfalls in den größeren Rahmen gehörte, daß er vielleicht sogar selbst irgend einem höheren Plan diente, aber etwas völlig anderes, die verblaßte Red-Sox-Mütze eines kleinen Jungen zu sehen, der in ein zugewachsenes Kellerloch gefallen und im Dunkeln gestorben war, unter Schmerzen gestorben, und ohne Stimme, nachdem er sechs Stunden lang nach seiner Mutter geschrien hatte.

Ralph streckt die Hand aus und berührte die Mütze ganz kurz. Billy Weatherbee hatte ihr Besitzer geheißen. Sein letzter Gedanke war der an Eiscreme gewesen.

Ralph drückte Lois' Hand.

[»Ralph, was ist los? Ich kann dich denken hören - ich bin ganz sicher -, aber es ist, als würde ich jemandem zuhören, der unterdrückt flüstert.«]

[»Ich habe nur gedacht, daß ich dem kleinen Mistkerl gerne eins auswischen möchte. Vielleicht könnten wir ihm zeigen, wie es ist, wenn man nachts wach liegt. Was meinst du?«]

Sie drückte seine Hand ebenfalls fester. Mehr brauchte Ralph nicht als Antwort.

Sie kamen zu einer Stelle, wo der schmale Gang, dem sie folgten, sich teilte. Das leise, konstante Summen kam aus dem linken und war, wie es sich anhörte, nicht mehr weit entfernt. Es war jetzt unmöglich für sie, Seite an Seite zu gehen, und als sie sich dem Ende näherten, wurde der Gang noch schmaler. Ralph mußte schließlich seitwärts weitergehen.

Die rötliche Ausscheidung, die Atropos hinterließ, war hier besonders dick, tropfte an den Souvenirstapeln herunter und bildete kleine Pfützen auf dem gestampften Sandboden. Lois hielt seine Hand jetzt so fest, daß es wehtat, aber Ralph beschwerte sich nicht.

[»Wie beim Bürgerzentrum, Ralph - er verbringt eine Menge Zeit hier.«]

Ralph nickte. Die Frage war, wenn Mr. A. diesen Weg entlang kam, was wollte er sich ansehen... verdammt, womit wollte er kommunizieren? Sie näherten sich jetzt dem Ende des Gangs -er wurde von einer soliden Mauer aus Plunder versperrt -, aber er konnte immer noch nicht sehen, was das Summen erzeugte, das ihn allmählich verrückt machte; es war, als würde ihm eine Pferdebremse direkt durch den Kopf fliegen. Als sie sich dem Ende des Durchgangs näherten, wuchs seine Überzeugung, daß das, wonach sie suchten, sich auf der anderen Seite der Barriere aus Plunder befinden mußte - sie würden entweder umkehren und sich einen anderen Weg suchen oder durchbrechen müssen. Beides konnte mehr Zeit erfordern, als sie sich leisten konnten. Ralph verspürte eine nagende, unterschwellige Verzweiflung.