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Aber der Korridor bildete keine Sackgasse; auf der linken Seite befand sich ein Durchschlupf unter einem Eßzimmertisch, auf dem sich Geschirr und Stapel grünen Papiers türmten und -

Grünes Papier? Nein, nicht ganz. Stapel von Banknoten. Zehner, Zwanziger und Fünfziger türmten sich wahllos auf den Tellern. Hunderter waren in eine gesprungene Sauciere gedrückt    worden,    ein    zusammengerollter Fünfhundertdollarschein steckte wie betrunken in einem staubigen Weinglas.

[»Ralph! Mein Gott, das ist ein Vermögen!«]

Sie betrachtete nicht den Tisch, sondern die andere Wand der Passage. Die letzten eineinhalb Meter bestanden aus gebündelten grünen Backsteinen aus Geld, und Ralph wurde klar, daß sich damit eine weitere Frage beantwortete, die ihn beschäftigt hatte: woher Ed seine Knete hatte. Atropos konnte darin baden... aber Ralph vermutete, daß der kleine glatzköpfige Wichser trotzdem Probleme haben würde, sich mit einem Mädchen zu verabreden.

Er bückte sich, damit er den Durchschlupf unter dem Tisch besser sehen konnte. Auf der anderen Seite schien eine sehr kleine Kammer zu liegen. Träges rotes Leuchten pulsierte in dem Kämmerchen wie das Schlagen eines Herzes. Es warf einen unangenehmen roten Schimmer auf ihre Schuhe.

Ralph zeigte darauf, dann sah er Lois an. Sie nickte. Er ließ sich auf die Knie sinken und kroch unter dem mit Geld beladenen Tisch durch in den Schrein, den Atropos um das Ding herum gebaut hatte, das mitten auf dem Boden lag. Deshalb waren sie hergeschickt worden, daran hatte Ralph nicht den geringsten Zweifel, aber er hatte immer noch keine Ahnung, was es eigentlich war. Der Gegenstand, nicht größer als eine Murmel, wie Kinder sie »Klicker« nennen, war in ein Leichentuch gehüllt, so undurchdringlich wie das Zentrum eines schwarzen Lochs.

Oh, prima - klasse. Was nun?

[»Ralph! Hört du den Gesang? Er ist ganz leise.«]

Er sah sie zweifelnd an, dann drehte er sich um. Er haßte diesen engen Raum bereits, und obwohl er nicht an Klaustrophobie litt, spürte er nun, wie sich der panische Wunsch, hier zu verschwinden, in seine Gedanken stahl. Eine deutliche Stimme meldete sich in seinem Kopf zu Wort. Das will ich nicht nur, Ralph; das muß ich. Ich werde mich bemühen, bei dir zu bleiben, aber wenn du nicht bald zu Ende bringst, was du hier tun sollst, spielt es keine Rolle mehr, was einer von uns beiden will - dann werde ich einfach das Ruder übernehmen und abhauen, als wäre der Teufel hinter mir her.

Das unterdrückte Entsetzen in dieser Stimme überraschte ihn nicht, denn dies war wirklich ein gräßlicher Ort - überhaupt kein Zimmer, sondern der Grund eines Schachts aus Gerumpel und gestohlenen Dingen: Toastern, Fußschemeln, Radioweckern, Kameras, Büchern, Kisten, Schuhen, Rechen. Fast unmittelbar vor Ralphs Augen hing an einem zerschlissenen Gurt ein verbeultes altes Saxophon mit der Aufschrift PETE in staubtrübem Bergkristall. Ralph streckte die Hand danach aus, weil er das verdammte Ding aus dem Gesicht haben wollte. Dann überlegte er sich, daß das Entfernen eines Gegenstands möglicherweise einen Erdrutsch auslösen könnte, der die Wände zum Einsturz brachte und sie bei lebendigem Leib begrub. Er zog die Hand zurück. Gleichzeitig öffnete er seinen Geist und seine Sinne, so weit er konnte. Einen Augenblick glaubte er, daß er tatsächlich etwas hören konnte - ein schwaches Seufzen, wie das Flüstern des Meeres in einer Muschel -, aber dann war es verschwunden.

[»Wenn hier drinnen Stimmen sind, Lois, dann kann ich sie nicht hören - dieses verdammte Ding übertönt sie.«]

Er deutete auf den Gegenstand in der Mitte des Kreises ein Schwarz, das alle seine bisherigen Vorstellungen von Schwarz in den Schatten stellte, ein Leichentuch, das der Inbegriff aller Leichentücher war. Aber Lois schüttelte den Kopf.

[»Nein, es übertönt sie nicht. Es saugt sie aus.«]

Sie betrachtete das kreischende schwarze Ding voll Abscheu und Entsetzen.

[»Dieses Ding saugt das Leben aus den ganzen Sachen, die ringsum gestapelt sind... und es versucht, auch aus uns das Leben zu saugen.«]

Ja, natürlich. Jetzt, wo Lois es laut ausgesprochen hatte, konnte Ralph das Leichentuch spüren - oder den Gegenstand darin -, der an etwas tief in seinem Kopf zerrte, zog, drehte, schob... und versuchte, es herauszuziehen wie einen Zahn aus rosa Zahnfleisch.

Versuchte, ihnen das Leben auszusaugen? Nahe dran, aber kein Treffer. Ralph glaubte nicht, daß das Ding in dem Leichentuch ihr Leben wollte, ebensowenig ihre Seelen, jedenfalls nicht im strengen Sinne. Es wollte ihre Lebenskraft. Ihr Chi.

Lois' Augen wurden groß, als sie diesen Gedanken empfing... und dann sah sie zu einer Stelle dicht neben seiner rechten Schulter. Sie beugte sich auf den Knien nach vorne und streckte die Hand aus.

[»Lois, das würde ich nicht tun - die ganzen Stapel könnten über uns -«]

Zu spät. Sie zog etwas heraus, betrachtete es von schockiertem Begreifen erfüllt und hielt es ihm hin.

["»Es lebt noch - alles hier drinnen lebt noch. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber es ist so... irgendwie ist es so. Aber sie sind schwach. Warum sind sie so schwach?«]

Was sie ihm entgegenstreckte, war ein kleiner weißer Turnschuh, der einer Frau oder einem Kind gehörte. Als Ralph ihn nahm, konnte er hören, wie der Schuh leise mit einer fernen Stimme sang. Das Geräusch war so einsam wie Novemberwind an einem verhangenen Nachmittag, aber auch unvorstellbar süß - ein Gegengift zum endlosen Plärren des Dings auf dem Boden.

Und es war eine Stimme, die er kannte. Er war ganz sicher.

Auf der Spitze des Turnschuhs war ein rostfarbener Spritzer. Ralph hielt ihn zuerst für Schokoladenmilch, aber dann erkannte er, worum es sich in Wirklichkeit handelte: getrocknetes Blut. In diesem Augenblick war er wieder vor dem Red Apple und hielt Nat, bevor Helen sie fallenlassen konnte. Er erinnerte sich, wie Helen über ihre eigenen Füße gestolpert war; wie sie rückwärts getaumelt war und sich an die Tür des Red Apple gelehnt hatte, wie eine Betrunkene an einen Laternenpfahl, und ihm die Hände entgegenstreckte. Gz mi mein Bäh-bie. Gi mi Nah-lie.

Er kannte die Stimme, weil es Helens Stimme war. Diesen Turnschuh hatte sie an dem Tag getragen, und die Blutstropfen auf der Schuhspitze stammten entweder von Helens eingeschlagener Nase oder der aufgeplatzten Wange. Er sang und sang, und seine Stimme wurde nicht völlig unter dem Summen des Dings in dem Leichentuch begraben, und jetzt, wo Ralphs Ohren - oder was in der Welt der Auren auch mmer als Ohren gelten mochte - weit geöffnet waren, konnte er alle anderen Stimmen von allen anderen Gegenständen hören. Sie sangen wie ein Chor der Verlorenen.

Lebten. Sangen.

Sie konnten singen, alle Gegenstände an diesen Wänden entlang konnten singen, weil ihre Besitzer noch singen konnten.

Ihre Besitzer waren noch am Leben.

Ralph sah wieder auf, und diesmal bemerkte er, daß verschiedene Gegenstände alt waren - das verbeulte Saxophon, zum Beispiel -, aber viele auch neu; in diesem kleinen Alkoven gab es keine Reifen von Gay-Nineties-Fahrrädern. Er sah drei Radiowecker, alle digital. Ein Rasierzeug, das aussah, als wäre es noch kaum benutzt worden. Ein Lippenstift, auf dem noch das Preisschild von Rite Aid klebte.

[»Lois, Atropos hat diese Sachen von den Leuten genommen, die heute abend im Bürgerzentrum sein werden. Richtig?«]

[»Ja. Ich bin sicher, daß es so ist.«]

Er deutete auf den schwarzen Kokon, der auf dem Boden kreischte und fast alle Lieder ringsum übertönte... übertönte und sich von ihnen nährte.

[»Und was immer sich in diesem Leichentuch befindet, hat etwas damit zu tun, was Klotho und Lachesis die Hauptsache nannten. Es ist das Ding, das alle verschiedenen Gegenstände

- alle verschiedenen Leben - zusammenbindet.«]