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[»Das sie zu Ka-tet macht. Ja.«]

Ralph gab Lois den Turnschuh zurück.

[»Den nehmen wir mit, wenn wir gehen. Er gehört Helen.«]

[»Ich weiß.«]

Lois sah ihn einen Moment an, und dann tat sie etwas, das Ralph außerordentlich schlau fand: Sie zog den Schnürsenkel aus zwei Ösen heraus und band sich den Turnschuh wie einen Armreif um das linke Handgelenk.

Er kroch näher zu dem kleinen Leichentuch und beugte sich darüber. Es war schwer, in seine Nähe zu gehen, und noch schwerer, in seiner Nähe zu bleiben - es war, als würde man das Ohr ans Gehäuse eines auf Höchstleistung laufenden Schlagbohrers halten oder, ohne die Augen zuzukneifen, in ein grelles Licht sehen. Diesmal schienen tatsächlich Worte aus dem Summen heraus zu ertönen, wie die, die sie gehört hatten, als sie sich dem Rand des Leichentuchs über dem Bürgerzentrum näherten: Hinausss. Forrttt. Zieeeehtabb.

Ralph hielt sich einen Moment die Ohren zu, aber das nützte natürlich nichts. Die Worte kamen selbstverständlich nicht von außen. Er ließ die Hände wieder sinken und sah Lois an.

[»Was meinst du? Hast du eine Ahnung, was wir als nächstes tun sollen?«]

Er wußte nicht genau, was er von ihr erwartete, jedenfalls nicht die rasche, selbstbewußte Antwort, die er bekam.

[»Schneid es auf und hol raus, was im Inneren ist - und zwar schnell. Das Ding ist gefährlich. Außerdem ruft es vielleicht Atropos, hast du dir das schon einmal überlegt? Daß es petzt, so wie die Henne Jack im Märchen von der Bohnenranke verpetzt hat.«]

Ralph hatte über diese Möglichkeit nachgedacht, wenn auch nicht so eingehend. Na gut, dachte er. Schneid den Sack auf und nimm den Preis heraus. Aber wie genau sollen wir das machen?

Er erinnerte sich an den Blitzstrahl, den er Atropos geschickt hatte, als der kleine Dreckskerl versuchte, Rosalie über die Straße zu locken. Ein guter Trick, aber so etwas konnte hier mehr Schaden anrichten als nützen; wenn er das Ding damit verdampfen ließ, das sie mitnehmen sollten?

Ich glaube nicht, daß du das kannst.

Gut, hinreichend logisch, tatsächlich glaubte er selbst nicht, daß er es konnte... aber wenn man von den Habseligkeiten von Menschen umgeben war, die bei Sonnenaufgang tot sein würden, war es Wahnsinn, ein Risiko einzugehen. Völliger Wahnsinn.

Ich brauche keinen Blitz, sondern eine gute, scharfe Schere, wie die mit der Klotho und Lachesis -

Er sah Lois an und war verblüfft von dem klaren Bild.

[»Ich weiß nicht, was dir gerade eingefallen ist, aber was auch immer, beeil dich damit.«]

Ralph sah auf seine rechte Hand herab - eine Hand, von der Falten und erste Spuren von Arthritis verschwunden waren, eine Hand inmitten einer hellblauen Korona aus Licht. Er kam sich ein wenig albern vor, als er die beiden letzten Finger an die Handfläche preßte und die ersten beiden ausstreckte, wobei er an ein Spiel denken mußte, das sie als Kinder gespielt hatten -Stein bricht Schere, Schere schneidet Papier, Papier bedeckt Stein.

Seid eine Schere, dachte er. Ich brauche eine Schere. Helft mir.

Nichts. Er sah zu Lois und stellte fest, daß sie ihn mit einer gelassenen Ruhe betrachtete, die irgendwie beängstigend war. O Lois, wenn du nur wüßtest, dachte er, aber dann verdrängte er den Gedanken aus seinem Kopf. Denn er hatte etwas gespürt, oder nicht? Etwas.

Diesmal ließ er keine Worte in seinem Geist entstehen, sondern ein Bild: Nicht die Schere, mit der Klotho Jimmy V. in die nächste Welt geschickt hatte, sondern die Schere aus Edelstahl aus dem Nähkörbchen seiner Mutter - lange, schmale Scherenblätter, die fast so spitz zuliefen wie ein Messer. Als er sich stärker konzentrierte, konnte er sogar zwei winzige Worte erkennen, die dicht über dem Angelpunkt in den Stahl eingraviert waren: SHEFFIELD STEEL. Und jetzt konnte er dieses Gefühl wieder in seinem Geist spüren, diesmal allerdings kein Blinzeln, sondern das langsame Spannen eines Muskels - eines unvorstellbar kräftigen Muskels. Dabei klappte er langsam die Finger auf und zu und bildete ein V, das enger und breiter wurde.

Jetzt konnte er die Energie spüren, die er dem Nirvana-Jungen und dem Penner beim Bahnhof abgenommen hatte, wie sie sich erst in seinem Kopf sammelte und dann wie ein seltsamer Krampf an der rechten Hand hinunter in die ausgestreckten Finger floß.

Die Aura um die ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger seiner Hand wurde dicker... und länger. Nahm die schlanke Form von Schneiden an. Ralph wartete, bis sie etwa zwölf Zentimeter über seine Fingernägel hinausragte, dann bewegte er die Finger wieder auf und ab. Die Schere öffnete und schloß sich.

[»Los, Ralph! Tu es!«]

Ja - er konnte es sich nicht leisten, Zeit mit Experimenten zu verplempern. Er fühlte sich wie eine Autobatterie, die einen viel zu großen Motor anlassen muß. Er konnte spüren, wie seine ganze Energie - die, die er genommen hatte, und seine eigene -seinen rechten Arm hinunter in diese Schneide floß. Es würde nicht lange halten.

Er beugte sich nach vorne, preßte die Finger zu einer Zeigegeste zusammen, und bohrte die Spitze der Schere in das Leichentuch. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, die Schere zu erschaffen und zu erhalten, daß er das konstante, heisere Summen gar nicht mehr gehört hatte -jedenfalls nicht bewußt -, aber als die Scherenspitze sich in die schwarze Haut bohrte, schwoll der Laut des Leichentuchs plötzlich zu neuen Höhen eines zugleich schmerzerfüllten und erschrockenen Kreischens an. Ralph sah Rinnsale einer dicken, dunklen Gallertmasse aus dem Tuch auf den Boden fließen. Es sah aus wie ein krankhafter Auswurf. Gleichzeitig spürte er, wie sich der Energiefluß in ihm ungefähr verdoppelte. Er stellte fest, daß er es sogar sehen konnte: Seine eigene Aura wallte in langsamen peristaltischen Bewegungen den rechten Arm und Handrücken entlang. Und er konnte spüren, wie sie um den Rest des Körpers herum immer dünner wurde und seinen lebenswichtigen Schutz verdünnte.

[»Beeil dich, Ralph! Beeil dich!«]

Er unternahm eine gewaltige Anstrengung und spreizte die Finger. Die schimmernden blauen Scherenblätter klappten ebenfalls auf und hinterließen einen kleinen Schlitz in dem schwarzen Ei. Es schrie, und zwei gezackte rote Blitze sausten über die Oberfläche. Ralph führte die Finger zusammen und sah, wie die Schere, die aus ihnen wuchs, wieder zuschnappte und in die dicke schwarze Substanz schnitt, die teilweise Schale und teilweise Fleisch war. Er schrie auf. Er verspürte nicht gerade Schmerzen, sondern eher ein Gefühl schrecklicher Erschöpfung. So muß man sich fühlen, wenn man verblutet, dachte er.

Etwas im Innern des Leichentuchs erstrahlte in goldenem Glanz.

Ralph nahm all seine Kräfte zusammen und versuchte, die Finger zu einem weiteren Schnitt zu öffnen. Zuerst glaubt er nicht, daß es ihm gelingen würde - aber dann klappten sie auseinander und vergrößerten den Schlitz. Jetzt konnte er den Gegenstand im Inneren fast erkennen, etwas Kleines und Rundes und Glänzendes. Im Grunde genommen kann es eigentlich nur eines sein, dachte er, und dann spürte er, wie sein Herz plötzlich in der Brust flatterte. Die blauen Scherenblätter flackerten.

[»Lois! Hilf mir!«]

Sie umklammerte sein Handgelenk. Ralph spürte, wie gewaltige Voltzahlen frischer Energie in ihn fuhren. Er beobachtete erstaunt, wie die Schere wieder fester wurde. Jetzt war nur noch eines der Scherenblätter blau. Das andere war perlmuttfarben.

Lois, in seinem Kopf kreischend: [»Schneid es auf! Schneid es jetzt auf!«]

Er preßte die Finger wieder zusammen, und diesmal schnitt die Schere das Leichentuch weit auf. Es stieß einen letzten, röchelnden Schrei aus, dann wurde es ganz rot und verschwand. Die Schere, die aus Ralphs Fingerspitzen wuchs, löste sich flackernd auf. Er schloß die Augen einen Moment und merkte plötzlich, daß große, warme Schweißperlen wie Tränen an seinen Wangen hinabliefen. Im dunklen Feld hinter seinen Lidern konnte er irre Bilder sehen, die wie tanzende Scherenblätter wirkten.