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»Ja«, murmelte Ralph, während er den Mittelgang entlang zu den hellroten Kartons mit Cup-A-Soup ging. »Das sehe ich jetzt voll und ganz ein.«

Sue, die Nachmittagskassiererin, lachte fröhlich. »Sie müssen Geld auf der Bank haben, Ralph«, sagte sie.

»Pardon?« Ralph drehte sich nicht um; er begutachtete die roten Kartons. Da war Zwiebel... Erbsen... Rindfleisch mit Nudeln... aber wo, zum Teufel, war Huhn mit Reis?

»Meine Mom hat immer gesagt, Leute, die Selbstgespräche führen, haben... O mein Gott!«

Einen Augenblick glaubte Ralph, sie hätte eine Bemerkung gemacht, die einfach zu komplex für seinen übermüdeten Verstand war, etwa daß Leute, die Selbstgespräche führten, Gott gefunden hätten, aber dann schrie sie. Er hatte sich gebückt, um die Kartons auf dem untersten Regal zu betrachten, aber bei dem Schrei schnellte er so ruckartig und hastig wieder hoch, daß seine Knie knackten. Er wirbelte zum Eingang des Ladens herum, stieß mit dem Ellbogen gegen den oberen Teil des Suppenregals und stieß ein halbes Dutzend rote Kartons in den Mittelgang.

»Sue? Was ist denn?«

Sue beachtete ihn gar nicht. Sie sah zur Tür hinaus, preßte die zur Faust geballte Hand an die Lippen und riß die braunen Augen darüber auf. »O Gott, seht euch das viele Blut an!« schrie sie mit erstickter Stimme.

Ralph drehte sich noch weiter herum, stieß einige weitere Lipton-Kartons auf den Boden und sah zum schmutzigen Schaufenster des Red Apple hinaus. Was er sah, entlockte ihm einen tiefen Seufzer, und er brauchte einige Sekunden - fünf, möglicherweise -, bis er erkannte, daß es sich bei der blutenden, verprügelten Frau, die auf das Red Apple zutaumelte, um Helen Deepneau handelte. Ralph hatte Helen stets für die hübscheste Frau im westlichen Teil der Stadt gehalten, aber heute hatte sie nichts Hübsches an sich. Eines ihrer Augen war so geschwollen, daß sie es nicht mehr aufbekam; an der linken Schläfe hatte sie eine Platzwunde, die bald zwischen den purpurnen Schwellungen verschwinden würde; ihre gesprungenen Lippen und Wangen waren mit Blut bedeckt. Das Blut kam aus ihrer Nase, die immer noch triefte. Sie schwankte wie eine Betrunkene über den Parkplatz des Red Apple auf die Tür zu, aber ihr unversehrtes Auge schien nichts zu sehen; es starrte nur blicklos.

Aber noch beängstigender als ihr Aussehen war die Art, wie sie mit Natalie umging. Sie hatte das brüllende, verängstigte Baby beiläufig um eine Hüfte geschwungen und trug es, wie sie vor zwölf Jahren ihre Bücher zur High School getragen haben könnte.

»O Gott, sie wird das Kind fallenlassen!« schrie Sue, aber obwohl sie zehn Schritte näher bei der Tür war als er, bewegte sie sich nicht - sie blieb einfach stehen, wo sie war, preßte die Hände auf den Mund, und ihre Augen schienen das ganze Gesicht verschlingen zu wollen.

Plötzlich fühlte sich Ralph überhaupt nicht mehr müde. Er sprintete den Gang entlang, riß die Tür auf und lief nach draußen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um Helen an den Schultern zu halten, als diese mit der Hüfte an die Kühltruhe stieß - glücklicherweise nicht die Hüfte, auf der Natalie ruhte und in eine andere Richtung weitertorkelte.

»Helen!« rief er. »Mein Gott, Helen, was ist denn passiert?«

»Hmh?« fragte sie mit dumpf neugieriger Stimme, die keine Ähnlichkeit mit der Stimme der munteren jungen Frau hatte, die ihn manchmal ins Kino begleitete und wegen Mel Gibson seufzte. Ihr gutes Auge drehte sich zu ihm, und er sah dieselbe dumpfe Neugier darin, ein Ausdruck, der zeigte, sie wußte nicht, wer sie war, geschweige denn, wo sie war oder was geschehen war, oder wann. »Hmh? Ral? Wa?«

Das Baby rutschte. Ralph ließ Helen los, griff nach Natalie und schaffte es, einen Träger ihrer Strampelhose zu fassen zu bekommen. Nat schrie, ruderte mit den Händen und sah ihn mit ihren großen, dunkelblauen Augen an. Er schob die andere Hand einen Augenblick bevor der Träger der Strampelhose riß, zwischen Nats Beine. Einen Moment lang balancierte das weinende Baby auf seiner Hand wie ein Turner auf dem Schwebebalken, und Ralph konnte den feuchten Wulst seiner Windeln durch den Overall spüren, den es trug. Dann schob er die andere Hand hinter seinen Rücken und drückte es an seine Brust. Sein Herz schlug heftig, und obwohl er das Baby nun sicher in Händen hielt, sah er es immer noch wegrutschen, sah den Kopf mit dem seidenweichen Haar mit einem ekelerregenden Knirschen auf den abfallübersäten Asphalt prallen.

»Hnh? Ar? Ral?« fragte Helen. Sie sah Natalie in Ralphs Armen, und da verschwand die Ausdruckslosigkeit teilweise aus ihrem guten Auge. Sie hob die Hände zu dem Kind, und in Ralphs Armen ahmte Natalie die Bewegung mit ihren eigenen Patschhändchen nach. Dann stolperte Helen, stieß gegen die Hauswand und torkelte einen Schritt zurück. Ein Fuß verfing sich im anderen (Ralph sah Blutspritzer auf ihren weißen Turnschuhen, und es war erstaunlich, wie hell auf einmal alles war; die Farbe war in die Welt zurückgekommen, zumindest vorübergehend), und sie wäre gestürzt, hätte Sue sich nicht in diesem Augenblick entschieden, auch endlich nach draußen zu kommen. Daher fiel Helen statt umzukippen einfach gegen die offene Tür und lehnte sich daran wie ein Betrunkener an einen Laternenpfahl.

»Ral?« Der Ausdruck in ihren Augen war jetzt ein wenig schärfer, und Ralph sah, daß es weniger Neugier als vielmehr Fassungslosigkeit war. Sie holte tief Luft und bemühte sich mit äußerster Anstrengung, verständliche Worte über die geschwollenen Lippen zu bringen. »Gi. Gi mi mein Bäh-bie. Gi mi Nah-lie.«

»Jetzt nicht, Helen«, sagte Ralph. »Im Augenblick bist du nicht sicher genug auf den Beinen.«

Sue stand immer noch auf der anderen Seite der Tür und stemmte sich dagegen, damit Helen nicht fiel. Wangen und Stirn des Mädchens waren aschfahl, Tränen standen in ihren Augen.

»Kommen Sie raus«, sagte Ralph. »Stützen Sie sie.«

»Ich kann nicht«, blubberte sie. »Sie ist ganz bluh-bluhblutig!«

»Um Himmels willen, hören Sie auf! Das ist Helen! Helen Deepneau, die hier in der Straße wohnt!«

Obwohl Sue das gewußt haben mußte, schien allein der Klang des Namens Wirkung zu zeigen. Sie kam um die offene Tür herum, und als Helen wieder rückwärts taumelte, legte Sue ihr einen Arm um die Schultern und stützte sie. Der Ausdruck ungläubiger Überraschung schwand nicht von Helens Gesicht. Ralph fiel es immer schwerer, sie anzusehen. Er fühlte sich durch und durch elend.

»Ralph? Was ist passiert? War das ein Unfall?«

Er drehte sich um und sah Bill McGovern am Rand des Parkplatzes stehen. Er trug eines seiner piekfeinen blauen Hemden, bei dem die Bügelfalten noch an den Ärmeln zu sehen waren, und hielt eine seiner seltsam zierlichen Hände mit den langen Fingern hoch, um die Augen abzuschirmen. So sah er merkwürdig und irgendwie nackt aus, aber Ralph hatte keine Zeit, über den Grund dafür nachzudenken; zuviel spielte sich hier ab.

»Es war kein Unfall«, sagte er. »Sie ist verprügelt worden. Hier, nimm das Kind.«

Er hielt Natalie zu McGovern hin, der zuerst zurückzuckte, dann aber das Baby nahm. Natalie fing sofort wieder an zu kreischen. McGovern, der aussah, als hätte ihm gerade jemand eine randvolle Kotztüte in die Hand gedrückt, hielt sie mit baumelnden Füßen auf Armeslänge von sich. Hinter ihm fand sich eine kleinere Menschenmenge ein, darunter zahlreiche Kinder in Baseballtrikots, die von ihrem nachmittäglichen Spiel auf dem Sportplatz um die Ecke zurückkamen. Sie betrachteten Helens geschwollenes und blutiges Gesicht mit einem ungesunden Interesse, und Ralph mußte an die Geschichte in der Bibel denken, wie sich Noah auf der Arche betrunken hatte