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Aber dieses eine Leben-!

Aber es ist ja nicht so, daß es jemals jemand erfahren müßte, dachte er kalt. Niemand, abgesehen vielleicht von Lois... und Lois würde meine Entscheidung akzeptieren. Carolyn hätte es vielleicht nicht getan, aber sie sind grundverschiedene Frauen.

Ja, aber hatte er das Recht?

[Selbstverständlich, Ralph - darum geht es bei diesen Fragen von Leben und Tod in Wirklichkeit: Wer das Recht hat. Diesmal bist du es. Also, was sagst du?]

[»Ich weiß nicht, was ich sage. Ich weiß nicht, was ich denke. Ich weiß nur, ich wünschte, ihr drei hättet mich EINFACH IN RUHE GELASSEN!«]

Ralph Roberts hob den Kopf zur wurzeldurchzogenen Decke von Atropos' Behausung und schrie.

Kapitel 27

Fünf Minuten später streckte Ralph den Kopf aus den Schatten unter der alten umgestürzten Eiche heraus. Er sah Lois sofort. Sie kniete vor ihm und sah ihm ängstlich durch das Dickicht der Wurzeln ins Gesicht. Er hob eine schmutzige, blutüberströmte Hand, die sie ergriff, um ihm einen Halt zu geben, während er die letzten Stufen heraufkam - knorrige Wurzeln, die mehr Ähnlichkeit mit Leitersprossen hatten.

Ralph wand sich unter dem Baum hervor, drehte sich auf den Rücken und atmete die herrliche, frische Luft in vollen Zügen ein. Er glaubte, daß die Luft in seinem ganzen Leben noch nie so angenehm gerochen hätte. Trotz allem war er ungeheuer dankbar, draußen zu sein. Frei zu sein.

[»Ralph? Alles in Ordnung?«]

Er drehte ihre Hand um, küßte die Handfläche und legte die Ohrringe dann dorthin, wo seine Lippen gewesen waren.

[»Ja. Bestens. Die gehören dir.«]

Sie betrachtete sie neugierig, als hätte sie noch nie Ohrringe gesehen - weder diese noch andere -, dann steckte sie sie in die Tasche.

[»Du hast sie im Spiegel gesehen, Lois, richtig?«]

[»Ja, und es hat mich wütend gemacht... aber ich glaube, eigentlich war ich nicht überrascht, im tiefsten Inneren nicht.«]

[»Weil du es gewußt hast.«]

[»Ja, ich schätze, das habe ich. Vielleicht schon, als wir Atropos zum erstenmal mit Bills Hut gesehen haben. Ich habe es nur...du weißt schon... verdrängt.«]

Sie sah ihn durchdringend und abschätzend an.

[»Aber lassen wir meine Ohrringe jetzt - was ist da unten passiert? Wie bist du entkommen?«]

Ralph hatte Angst, daß sie zuviel sehen würde, wenn sie ihn lange auf diese gründliche Art und Weise betrachtete.

Außerdem fürchtete er, wenn er sich nicht bald in Bewegung setzen würde, würde er nie mehr aufstehen können; seine Müdigkeit war inzwischen so gewaltig, sie glich einem riesigen, verkrusteten Objekt - möglicherweise einem vor langer Zeit gesunkenen Ozeanriesen -, das in ihm lag, ihn rief und versuchte, ihn in die Tiefe zu ziehen. Er stand auf. Er durfte nicht zulassen, daß einer von ihnen in die Tiefe gezogen wurde, jetzt nicht. Die Neuigkeiten, die der Himmel verkündete, waren nicht so schlimm, wie sie hätten sein können, aber schlimm genug - es war mindestens achtzehn Uhr. Überall in Derry setzten sich Leute, die das Thema Abtreibung keinen Scheißdreck interessierte (mit anderen Worten, die große Mehrheit), zum Abendessen hin. Im Bürgerzentrum würden die Türen jetzt geöffnet werden; 1000 Fernsehscheinwerfer würden sie anstrahlen, Minicams würden Livebilder der ersten Abtreibungsbefürworter übertragen, die an Dan Dalton und seinen schilderschwingenden Friends of Life vorbeifuhren. Nicht weit von hier entfernt sangen Leute das alte Lieblingslied von Ed Deepneau: Hey, hey, Susan Day, how many kids did you kill today? Was auch immer er und Lois tun würden, sie mußten es in den nächsten sechzig bis neunzig Minuten tun. Die Uhr tickte.

[»Komm mit, Lois. Wir müssen uns beeilen.«]

[»Gehen wir ins Bürgerzentrum zurück?«]

[»Nein, nicht gleich. Ich glaube, vorher müssen wir -«]

Ralph stellte fest, daß er es einfach nicht erwarten konnte, zu hören, was er zu sagen hatte. Wohin mußten sie seiner Meinung nach vorher? Ins Derry Home zurück? Ins Red Apple? Sein Haus? Wohin ging man, wenn man zwei wohlmeinende, aber alles andere als allwissende Burschen suchte, die einen selbst und seine engsten Freunde in eine Welt voller Schmerzen und Sorgen gestürzt hatten? Oder konnte man davon ausgehen, daß sie einen fanden?

Vielleicht wollen sie dich nicht finden, mein Lieber. Möglicherweise verstecken sie sich sogar vor dir.

[»Ralph, bist du sicher, daß du -«]

Plötzlich dachte er an Rosalie und wußte es.

[»Der Park, Lois. Strawford Park. Dorthin müssen wir. Aber unterwegs müssen wir noch einmal haltmachen.«]

Er führte sie am Sturmzaun entlang, und wenig später hörten sie das träge Murmeln verschiedener Stimmen. Ralph konnte gegrillte Hot Dogs riechen, und nach dem Gestank von Atropos' Bau kam ihm der Duft wie Ambrosia vor. Eine oder zwei Minuten später gelangten er und Lois an den Rand des kleinen Picknickgeländes in der Nähe der Startbahn 3.

Dorrance stand in seiner erstaunlichen vielfarbigen Aura dort und beobachtete ein Kleinflugzeug, das sich der Landebahn näherte. Hinter ihm saßen Faye Chapin und Don Veazie mit einem Schachbrett zwischen sich und einer halbvollen Flasche Blue Nun griffbereit an einem der Picknicktische. Stan und Georgina Eberly tranken Bier und schwenkten Gabeln mit aufgespießten Hot Dogs in der flimmernden Hitze - für Ralph hatte dieses Flimmern einen seltsam trockenen rosa Farbton, wie korallenfarbener Sand - über einem der Grillplätze des Picknickgeländes.

Einen Augenblick stand Ralph nur, wo er war, wie vom Donner gerührt von ihrer Schönheit - die vergängliche, außerordentliche Schönheit, die, vermutete er, das Wesentliche im Leben der Kurzfristigen bildete. Ein Stück aus einem mindestens fünfundzwanzig Jahre alten Lied fiel ihm ein: We are stardust, we are golden. Dorrance' Aura war anders - auf sagenhafte Weise anders -, aber selbst die prosaischste Aura von den anderen funkelte wie seltene und unendlich kostbare Edelsteine.

[»O Ralph, siehst du es? Siehst du, wie wunderschön sie sind?«]

[»Ja.«]

[»Jammerschade, daß sie es nicht wissen.«]

Stimmte das? Im Licht der jüngsten Ereignisse war Ralph da nicht mehr so sicher. Und er hatte eine Ahnung - eine undeutliche, aber ausgeprägte Intuition, die er niemals in Worte hätte fassen können -, daß wahre Schönheit etwas war, das das bewußte Selbst gar nicht erkannte, ein ständig im Entstehen begriffenes Kunstwerk, etwas, das mehr Sein als Sehen war.

»Los doch, Dummkopf, mach deinen Zug«, sagte eine Stimme. Ralph wirbelte herum, weil er zuerst dachte, die Stimme hätte ihn angesprochen, aber es war Faye, der sich mit Don Veazie unterhielt. »Du bist eine lahme Ente.«

»Hör auf«, sagte Don. »Ich denke nach.«

»Du kannst nachdenken, bis die Hölle zufriert, und bist trotzdem in sechs Zügen matt.«

Don goß etwas Wein in einen Pappbecher und verdrehte die Augen. »Pest und Hölle!« rief er. »Ich hab nicht gewußt, daß ich gegen Boris Spasski Schach spiele! Ich dachte, es wäre nur der gute alte Faye Chapin! Ich wälze mich vor dir im Staub!«

»Echt Klasse, Don. Mit der Show könntest du auf Tournee gehen und eine Million Dollar verdienen. Und du mußt nicht einmal lange warten - noch sechs Züge, und du kannst aufbrechen.«

»Was für ein Klugscheißer«, sagte Don. »Du weißt einfach nicht, wann du -«

»Pssst!« sagte Georgina Eberly schneidend. »Was war das? Hat sich angehört, als wäre was explodiert!«