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In der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern sah Ralph jemanden aus dem Red Apple kommen. Eine Gestalt in dunklen Kordhosen und einer Red-Sox-Mütze. Gleich würde das Schickliche wieder seinen Lauf nehmen, und weil Ralph es nicht sehen wollte, schlug er die Augen auf und betrachtete die Frau neben sich.

[»Jedes Menschenleben ist wichtig, Lois, würdest du das nicht auch sagen? Jedes einzelne.«

Er wußte nicht, was sie in seiner Aura sah, aber es bereitete ihr eindeutig Todesängste.

[»Was ist da unten passiert, nachdem ich gegangen bin? Was hat er dir gesagt oder getan? Sag es mir, Ralph! Sag es mir!«]

Was sollte es sein? Eine oder viele? Die Dame oder der Tiger? Wenn er nicht bald handelte, würde ihm die Entscheidung einfach von der verrinnenden Zeit aus der Hand genommen werden. Also was? Was?

»Keines... oder beides«, sagte er heiser und merkte in seiner schrecklichen Zwickmühle gar nicht, daß er es laut und auf mehreren Ebenen gleichzeitig aussprach. »Ich werde mich nicht so oder so entscheiden. Niemals. Habt ihr gehört?«

Er sprang von der Bank auf und sah wild um sich.

»Habt ihr mich gehört?« schrie er. »Ich lehne die Entscheidung ab! Entweder BEIDES oder KEINS VON BEIDEM!«

Auf einem der Wege nördlich von ihnen sah ein Penner auf, der nach Pfandflaschen und -dosen gesucht hatte, warf einen Blick auf Ralph und suchte das Weite. Er hatte einen Mann gesehen, der in Flammen zu stehen schien.

Lois stand auf und nahm sein Gesicht zwischen die Hände.

[»Ralph, was ist denn? Wer ist es? Ich? Du? Denn wenn ich es bin, wenn du dich wegen mir zurückhältst, möchte ich nicht -«]

Er holte tief und schwer Luft, dann berührte er ihre Stirn mit seiner und sah ihr in die Augen.

[»Du bist es nicht, Lois, und ich auch nicht. Wäre es einer von uns, könnte ich mich vielleicht entscheiden. Aber wir sind es nicht, und der Teufel soll mich holen, wenn ich weiter ein Bauer auf dem Schachbrett sein will.«]

Er riß sich los und ging einen Schritt von ihr weg. Seine Aura loderte so grell auf, daß sie die Hand vor die Augen halten mußte; es war, als würde er irgendwie explodieren. Und als er die Stimme erhob, hallte sie wie Donner in ihrem Kopf.

[»KLOTHO! LACHESIS! KOMMT ZU MIR, VERDAMMT, UND ZWAR SOFORT!«]

Er ging zwei oder drei Schritte weiter und sah bergab. Die beiden Jungs von der Junior High, die auf den Schaukeln saßen, sahen mit denselben ängstlichen Mienen zu ihm auf. Sie flohen in dem Moment, als Ralphs Blick auf sie fiel, flohen aufgeschreckt wie zwei Rehe zu den Lichtern der Witcham Street und ließen die schwelenden Zigaretten in den Fußspuren unter den Schaukeln zurück.

[»KLOTHO! LACHESIS!«]

Er brannte wie ein elektrischer Lichtbogen, und plötzlich floß sämtliche Kraft wie Wasser aus Lois' Beinen heraus. Sie wich einen Schritt zurück und ließ sich auf die Parkbank fallen. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf, ihr Herz schlug rasend schnell, und unter allem lag diese grenzenlose Erschöpfung. Ralph sah sie als gesunkenes Schiff; Lois sah sie als Grube, um die sie in einer immer engeren Spirale gehen mußte, eine Grube, in die sie am Ende fallen würde.

[»KLOTHO! LACHESIS! EURE LETZTE CHANCE! DAS IST MEIN ERNST!«]

Einen Augenblick tat sich gar nichts, dann gingen die Türen der Port-O-Sans unten am Hügel in perfektem Einklang auf. Klotho kam aus der mit der Aufschrift MÄNNER, Lachesis aus der mit der Aufschrift FRAUEN. Ihre Auren, gleißend grün-golden wie Libellen im Sommer, schimmerten im äschernen Licht des frühen Abends. Sie rückten zusammen, bis ihre Auren sich überlappten, dann kamen sie langsam bergauf, während ihre weißgekleideten Schultern sich fast berührten. Sie sahen wie zwei ängstliche Kinder aus.

Ralph drehte sich zu Lois um. Seine Aura loderte immer noch. [»Bleib hier.«]

[»Ja, Ralph.«]

Sie ließ ihn fast den Hügel hinuntergehen, dann nahm sie allen Mut zusammen und sprach ihn an.

[»Aber ich werde versuchen, Ed aufzuhalten, wenn du es nicht tust. Das ist mein Ernst.«]

Selbstverständlich, und ihre Tapferkeit rührte ihm das Herz... aber sie wußte nicht, was er wußte. Hatte nicht gesehen, was er gesehen hatte.

Er sah einen Moment zu ihr, dann ging er zu den beiden kleinen kahlköpfigen Ärzten, die ihn mit ihren leuchtenden, ängstlichen Augen betrachteten.

Lachesis, nervös: [Wir haben Sie nicht belogen - haben wir nicht.]

Klotho, noch nervöser (falls das überhaupt möglich war): [Deepneau ist auf dem Weg. Sie müssen ihn aufhalten, Ralph -Sie müssen es wenigstens versuchen.]

Tatsache ist, ich muß gar nichts, und das sieht man euren Gesichtern an, dachte er. Dann drehte er sich zu Klotho um und stellte zufrieden fest, daß der kleine kahlköpfige Mann vor seinem Blick zurückschreckte und die dunklen, pupillenlosen Augen niederschlug.

[»Ist das so? Auf dem Dach des Krankenhauses haben Sie uns gesagt, wir sollten uns von Ed Deepneau fernhalten, Mr. K. Das haben Sie ausdrücklich betont.«]

Klotho wand sich unbehaglich und rang die Hände.

[Ich...das soll heißen, wir... können uns irren. Diesmal haben wir uns geirrt.]

Aber Ralph wußte, geirrt war nicht der passende Ausdruck dafür; einer Selbsttäuschung erlegen wäre besser gewesen. Er wollte sie deshalb beschimpfen - oh, um die Wahrheit zu sagen, er wollte sie beschimpfen, weil sie ihn überhaupt erst in diese beschissene Lage gebracht hatten -, stellte aber fest, daß er es nicht konnte. Denn dem alten Dor zufolge hatte sogar ihre Selbsttäuschung dem Plan gedient; der Umweg nach High Ridge war aus irgendeinem Grund gar kein Umweg gewesen. Er begriff nicht, warum oder wie das sein konnte, hatte aber vor, es herauszufinden, wenn er es herausfinden konnte.

[»Vergessen wir das vorerst einmal, meine Herren, und unterhalten uns darüber, warum das alles passiert. Wenn ihr Hilfe von mir und Lois wollt, solltet ihr mir das besser sagen.«]

Sie sahen einander mit ihren großen, ängstlichen Augen an, dann wieder Ralph.

Lachesis: [Ralph, bezweifeln Sie, daß die vielen Menschen wirklich sterben werden? Denn wenn ja -]

[»Nein, aber ich habe es satt, daß sie mir andauernd vor Augen geführt werden. Wenn ein Erdbeben in dieser Gegend stattfinden würde, das dem Plan dient, und wenn die Zahl der Opfer bei zehntausend statt bei zweitausend und ein paar Zerquetschten liegen würde, dann würdet ihr beiden doch nicht einmal mit der Wimper zucken. Also, was ist so Besonderes an der Situation? Sagt es mir!«]

Klotho: [Ralph, wir machen die Regeln ebensowenig wie Sie. Wir haben gedacht, Sie wüßten das.]

Ralph seufzte.

[»Ihr weicht schon wieder aus, und damit vergeudet ihr nur eure eigene Zeit.«]

Klotho, unbehaglich: [Nun gut, vielleicht war die Version, die wir Ihnen geschildert haben, nicht völlig klar, aber die Zeit war knapp, und wir hatten Angst. Und Sie müssen wissen, was auch passiert, diese Menschen werden sterben, wenn Sie Ed Deepneau nicht aufhalten!]

[»Vergeßt sie alle vorerst mal; ich will nur über eine Person etwas wissen - diejenige, die dem Plan gehört und nicht übergeben werden kann, nur weil ein nicht eingeplanter Pisser mit einem Kopf voll lockerer Schrauben und einem Flugzeug voller Sprengstoff daherkommt. Wen könnt ihr dem Zufall nicht übergeben? Es ist Ms. Day, richtig? Susan Day.«]

Lachesis: [Nein. Susan Day gehört dem Zufall. Sie geht uns nichts an, unterliegt nicht unserem Einfluß.]

[»Wer dann?«]

Klotho und Lachesis wechselten wieder einen Blick. Klotho nickte stumm, dann wandten sie sich beide wieder Ralph zu. Wieder streckte Lachesis die ersten beiden Finger der rechten Hand in die Höhe und erzeugte das Pfauenrad aus Licht.

Diesmal sah Ralph aber nicht McGovern, sondern einen kleinen Jungen mit blondem Haar, das ihm strähnig in die Stirn hing, und einer hakenförmigen Narbe auf dem Nasenrücken. Ralph wußte sofort, wer es war - der Junge aus dem Keller von High Ridge, der mit der mißhandelten Mutter. Der ihn und Lois Engel genannt hatte.