Выбрать главу

[»Sei tapfer - es wird nicht lange dauern.«]

Er legte die Arme um ihre Schultern und verschränkte die Hände hinter ihrem Nacken. Sie wiederholte die Geste, dann beugten sie sich langsam zueinander, bis sie sich mit der Stirn berührten und ihre Lippen keine drei Zentimeter mehr auseinander waren. Er konnte noch Parfüm an ihr riechen -möglicherweise aus den dunklen, süßen Vertiefungen hinter ihren Ohren.

[»Bist du bereit, Liebste?«]

Was sie antwortete, fand er seltsam und tröstlich zugleich.

[»Ja, Ralph. Sieh mich an. Komm ins Licht. Komm ins Licht und nimm das Licht.«]

Ralph schürzte die Lippen und begann einzuatmen. Ein breites Band rauchigen Lichts strömte aus ihrem Mund und ihrer Nase in ihn. Seine Aura wurde augenblicklich heller, so lange, bis sie eine grelle, wolkige Korona um ihn herum bildete. Und immer noch inhalierte er weiter, atmete etwas jenseits des Atems und spürte, wie die Narbe an seiner Hand immer heißer und heißer wurde, bis sie einem unter seiner Haut begrabenen Starkstromkabel glich. Er hätte nicht aufhören können, selbst wenn er gewollt hätte... aber er wollte nicht.

Sie taumelte einmal. Er sah, wie ihr Blick verschwamm, und spürte, sie sich der Griff ihrer Hände in seinem Nacken kurz lockerte. Dann sah sie ihn wieder mit ihren großen, glänzenden Augen voll Vertrauen an, und ihr Griff wurde wieder fest. Als sich sein titanisches Einatmen schließlich dem Höhepunkt näherte, stellte er fest, daß ihre Aura so blaß geworden war, daß er sie kaum noch sehen konnte. Ihre Wangen waren leichenblaß, und ihr Haar so grau, daß das Schwarz fast nicht mehr zu sehen war. Er mußte aufhören, mußte, oder er würde sie umbringen.

Es gelang ihm, die linke Hand von der rechten zu lösen, und das schien gleichsam den Stromkreis zu unterbrechen; nun konnte er von ihr zurückweichen. Lois schwankte und wäre beinahe gestürzt, aber Klotho und Lachesis, die große Ähnlichkeit mit den Liliputanern aus Gullivers Reisen hatten, hielten sie an den Armen und ließen sie vorsichtig auf die Bank sinken.

Ralph ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder. Er war außer sich vor Angst und Schuldgefühlen, gleichzeitig aber von einem so gewaltigen Gefühl der Macht durchdrungen, daß er den Eindruck hatte, als könnte ihn ein heftiger Ruck wie eine Flasche Nitroglyzerin zur Explosion bringen. Jetzt hätte er mit der Karateschlag-Geste ein Gebäude zum Einsturz bringen können - möglicherweise eine ganze Reihe davon.

Dennoch hatte er Lois verletzt. Möglicherweise schwer.

[»Lois! Lois, kannst du mich hören? Es tut mir leid!«]

Sie sah benommen zu ihm auf, eine vierzigjährige Frau, die innerhalb von Sekunden sechzig Jahre alt geworden war... und dann immer älter bis weit über Siebzig, wie eine Rakete, die über ihr anvisiertes Ziel hinausschießt. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.

[»Lois, es tut mir leid. Ich wußte es nicht, und als ich es merkte, konnte ich nicht mehr aufhören.«]

Lachesis: [Wenn Sie überhaupt noch eine Chance haben wollen, Ralph, dann müssen Sie jetzt gehen. Er ist fast da.]

Lois nickte zustimmend.

[» Geh, Ralph - ich bin nur schwach, das ist alles. Ich komme schon wieder auf die Beine. Ich bleibe einfach hier sitzen, bis ich wieder bei Kräften bin.«]

Ihre Augen sahen nach links, und Ralph folgte ihrem Blick. Er sah den Penner, den sie vorhin in die Flucht getrieben hatten. Er war zurückgekehrt und suchte in den Abfalleimern auf dem Hügel weiter nach Pfandflaschen und -dosen, und auch wenn seine Aura nicht ganz so gesund aussah wie die des Burschen, den sie vorhin bei den alten Gleisen getroffen hatten, schätzte Ralph, daß er es für den Notfall tun würde... und für Lois war das eindeutig ein solcher.

Klotho: [Wir werden dafür sorgen, daß er hierher kommt, Ralph wir haben nicht viel Einfluß auf die stofflichen Aspekte der Welt der Kurzfristigen, aber ich denke, soviel werden wir schaffen.]

[»Sicher?«]

[Ja.]

[»Okay. Gut.«]

Ralph warf einen raschen Blick auf die beiden kahlköpfigen Männer, bemerkte ihre ängstlichen, furchtsamen Augen und nickte. Dann bückte er sich und küßte Lois' kalte, runzlige Wange. Sie schenkte ihm das Lächeln einer müden alten Großmutter.

Ich habe ihr das angetan, dachte er. Ich.

Dann solltest du gefälligst dafür sorgen, daß es nicht umsonst war, sagte Carolyns Stimme brüsk.

Ralph sah die drei - Klotho und Lachesis flankierten Lois mittlerweile schützend auf der Bank - ein letztesmal an, dann ging er wieder den Hügel hinab.

Als er die Toiletten erreichte, stand er einen Moment dazwischen, dann lehnte er den Kopf an die mit der Aufschrift FRAUEN. Er hörte nichts. Aber als er den Kopf an die blaue Plastiktür der mit der Aufschrift MÄNNER legte, hörte er eine leise, hallende, singende Stimme:

»Who believes that my wildest dreams And my craziest schemes will come true? You, baby, nobody but you.«

Herrgott, der ist völlig Banane.

Ist das etwas Neues, Liebling?

Wohl nicht, schätzte Ralph. Er ging zur Tür des Port-O-San und riß sie auf. Jetzt konnte er auch das ferne, wespenähnliche Summen eines Motorflugzeugs hören, aber es gab nichts zu sehen, das er nicht schon dutzende Male vorher gesehen hatte: die gesprungene Klobrille, die schief auf der Kloschüssel hing, eine Rolle Toilettenpapier, die einen seltsamen und irgendwie geheimnisvoll aufgequollenen Eindruck machte, und links ein Pissoir, das wie eine Träne aus Plastik aussah. Die Wände waren mit Kritzeleien vollgeschmiert. Die größte - und auffälligste - stand in dreißig Zentimeter großen Buchstaben über dem Pissoir: TONY BOYNTON HAT DEN ENGSTEN HINTERN IN DERRY! Ein betäubendes Fichtennadelaroma überlagerte die Gerüche von Scheiße, Pisse und Pennerfürzen wie Make-up das Gesicht einer Leiche. Die Stimme, die er hörte, schien aus der Kloschüssel zu kommen, möglicherweise aber auch aus den Wänden selbst:

»From the time l go to bed

Until the morning comes

I dream about you, baby, nobody but you.«

Wo ist er? fragte sich Ralph. Und wie, um alles in der Welt, kann ich zu ihm kommen?

Ralph verspürte plötzlich etwas Warmes an der Hüfte, als hätte ihm jemand eine heiße Kohle in die Tasche gesteckt. Er runzelte die Stirn, dann fiel ihm ein, was er darin hatte. Er griff mit einem Finger in die schmale Tasche, berührte den goldenen Ring, den er dort verstaut hatte, und zog ihn heraus. Er legte ihn an der Stelle, wo sich Liebes- und Lebenslinie kreuzten auf die Handfläche und berührte ihn zaghaft. Er war wieder abgekühlt. Ralph war nicht besonders überrascht.

HD-ED 15.8.87.

»Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden«, murmelte Ralph und steckte sich Eds Trauring an den Ringfinger der linken Hand. Er paßte wie angegossen. Er schob ihn hinauf, bis er den Ring berührte, den ihm Carolyn vor fünfundvierzig Jahren an den Finger gesteckt hatte. Dann sah er auf und stellte fest, daß die Rückwand des Port-O-San verschwunden war.

Zwischen den Wänden, die stehengeblieben waren, sah er einen Himmel kurz nach Sonnenuntergang und einen Ausschnitt der Landschaft von Maine, der sich im blaugrauen Dunst der Dämmerung verlor. Er schätzte, daß er aus einer Höhe von dreitausend Metern hinaussah. Er konnte schimmernde Seen und Teiche und gewaltige Flächen dunkelgrüner Wälder erkennen, die sich bis zur Toilettenschüssel des Port-O-San dahinzogen und dann verschwanden. Weit voraus - unter dem Dach der Toilettenkabine - konnte Ralph eine funkelnde Ansammlung von Lichtern sehen. Das war wahrscheinlich Derry, nicht mehr als zehn Minuten entfernt. Im linken unteren Quadranten seines Sehbereichs konnte Ralph einen Teil eines Armaturenbretts erkennen. Über dem Höhenmesser klebte ein kleines Farbfoto, bei dessen Anblick Ralph der Atem stockte. Es zeigte Helen, die unvorstellbar glücklich und unvorstellbar schön aussah. In den Armen hielt sie das Verehrte & Angebetete Baby, fest schlafend und nicht älter als vier Monate.