Выбрать главу

Ed ballte die Hand zur Faust und schlug damit auf das Funkgerät ein. Glasscherben flogen, wenig später spritzte auch Blut. Es spritzte auf das Armaturenbrett, das Bild von Helen und Natalie und Eds sauberes graues TShirt. Er schlug so lange auf das Gerät ein, bis die Stimme zuerst in zunehmendem Rauschen leiser wurde und dann völlig verstummte.

»Gut«, sagte er mit der leisen, seufzenden Stimme eines Mannes, der häufig Selbstgespräche führt. »Viel besser. Ich hasse diese vielen Fragen. Sie dienen nur -«

Er sah seine blutige Hand und verstummte. Er hielt sie hoch, betrachtete sie genauer und ballte sie wieder zur Faust. Ein großer Glassplitter ragte dicht unter dem dritten Knöchel aus dem kleinen Finger. Ed zog ihn mit den Zähnen heraus, spie ihn achtlos auf den Boden und tat dann etwas, bei dem Ralph ein kalter Schauer überlief: Er strich mit der blutigen Faust erst über die linke und dann über die rechte Wange, so daß zwei blutige Striemen zurückblieben. Er griff in die elastische Tasche an der linken Wand, holte einen Taschenspiegel heraus und betrachtete seine behelfsmäßige Kriegsbemalung. Was er sah, schien ihm zu gefallen, denn er lächelte und nickte, bevor er den Spiegel wieder in der Tasche verschwinden ließ.

»Just remember what the obor mouse said«, riet sich Ed mit seiner leisen, seufzenden Stimme, und dann drückte er den Steuerknüppel nach vorne. Die Schnauze der Cherokee sank, und der Höhenmesser fiel langsam. Ralph konnte Derry jetzt direkt vor sich sehen. Die Stadt sah aus wie eine Handvoll Opale, die auf dunkelblauem Samt ausgestreut worden waren.

Der Karton auf dem Sitz des Copiloten hatte ein Loch an der Seite. Zwei Kabel ragten daraus hervor. Sie führten zu einer Türklingel, die an der Armlehne von Eds Sitz festgeklebt war. Ralph nahm an, Ed würde, sobald er das Bürgerzentrum in Sichtweite hatte und mit seinem eigentlichen Kamikazeanflug begann, einen Finger auf den weißen Knopf in der Mitte des Plastikrechtecks legen. Und kurz vor dem Aufprall würde er darauf drücken. Ding-dong, die Avonberaterin.

Zerreiß die Kabel, Ralph! Zerreiß sie!

Ein ausgezeichneter Vorschlag, der nur einen Nachteil hatte: Er konnte keine Spinnwebe zerreißen, solange er sich auf dieser Ebene befand. Das bedeutete, er mußte ins Land der Kurzfristigen zurücksinken, und genau das wollte er tun, als ihm eine leise, vertraute Stimme rechts von ihm ins Ohr flüsterte.

[Ralph.]

Rechts von ihm? Das war unmöglich. Rechts von ihm war nichts, außer dem Sitz des Copiloten, die Wand des Flugzeugs und meilenweit Luft über Neuengland.

Die Narbe an seinem Arm fing an zu kribbeln wie der Heizstab eines Tauchsieders.

[Ralph!]

Schau nicht hin. Achte überhaupt nicht darauf. Ignoriere es.

Aber das konnte er nicht. Eine gewaltige, unerbittliche Kraft hatte ihn im Griff, und langsam drehte sich sein Kopf. Er kämpfte dagegen an, weil er merkte, daß der Neigungswinkel des Flugzeugs steiler wurde, aber es nützte nichts.

[Ralph, sieh mich an - hab keine Angst.]

Er unternahm einen letzten Versuch, sich der Stimme zu entziehen, konnte es aber nicht. Er drehte weiter den Kopf, und plötzlich sah Ralph seine Mutter vor sich, die vor fünfundzwanzig Jahren an Lungenkrebs gestorben war.

Bertha Roberts saß in ihrem Schaukelstuhl etwa eineinhalb Meter jenseits der Stelle, wo die rechte Seitenwand der Cherokee gewesen war, strickte und schaukelte eine Meile oder mehr über dem Boden in der Luft. Die Hausschuhe, die Ralph ihr zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte - mit echtem Nerzbesatz, wie albern -, trug sie an den Füßen. Um die Schultern hatte sie einen rosa Schal gelegt. Ein alter politischer Anstecker - WIN WITH WILKIE! stand darauf - hielt den Schal zusammen.

Stimmt, dachte Ralph. Die hat sie als Schmuck getragen - das war ihr kleiner Tick. Hatte ich ganz vergessen.

Das einzige andere, das falsch war (davon abgesehen, daß sie tot war und im Augenblick in einer Höhe von achtzehnhundert Metern schaukelte) war das rote Wollteil auf ihrem Schoß. Ralph hatte seine Mutter nie stricken sehen, war nicht einmal sicher, ob sie es konnte, aber jetzt strickte sie trotzdem wie verrückt. Die Nadeln glänzten und funkelten zwischen den Maschen.

[»Mutter? Mom? Bist du es wirklich?«]

Die Nadeln standen still, als sie von der scharlachroten Decke auf ihrem Schoß aufsah. Ja, sie war es - jedenfalls wie sie Ralphs Erinnerung nach ausgesehen hatte, als er zehn Jahre alt war. Schmales Gesicht, hohe Gelehrtenstirn, braune Augen und ein Knoten grauen Haars straff im Nacken gebunden. Es war ihr kleiner Mund, der streng und verbittert aussah... das heißt, bis sie lächelte.

[Aber, Ralph Roberts! Ich bin überrascht, daß du das überhaupt fragen mußt!]

Aber das ist eigentlich keine Antwort, oder? dachte Ralph. Er machte den Mund auf, um das zu sagen, aber dann entschied er, daß es zumindest vorläufig klüger sein könnte, wenn er still blieb. Ein milchiger Umriß schwebte jetzt rechts von ihr in der Luft. Er wurde vor Ralphs Augen dunkler und solider und gerann zu dem Zeitungsständer aus Kirschholz, den er im Werkuntericht in seinem ersten Jahr an der Derry High für sie gebastelt hatte. Er steckte voll mit Reader's-Digest- und LifeMagazinen. Und nun löste sich der Erdboden tief unter ihr auf und wurde zu einem Muster aus braunen und dunkelroten Quadraten, die sich, von ihrem Schaukelstuhl ausgehend, in einem Kreis ausbreiteten wie Wellen auf einem See. Ralph erkannte sofort, was es war - der Linoleumküchenboden im Haus in der Kansas Street, wo er aufgewachsen war. Zuerst konnte er den Erdboden noch darunter erkennen, die Geometrie des Farmlands, und nicht weit entfernt davon den Kenduskeag, der durch Derry floß, aber dann gewann der Fußboden an Festigkeit. Ein geisterhafter Fleck, wie Pusteblumen, wurde zu Futzy, der alten Angorakatze seiner Mutter, die sich auf dem Fenstersims zusammengerollt hatte und die Möwen betrachtete, die über der alten Müllhalde in den Barrens kreisten. Futzy war etwa zu der Zeit gestorben, als Dean Martin und Jerry Lewis aufgehört hatten, Filme zusammen zu machen.

[Der alte Mann hatte ganz recht, mein Junge. Du hast dich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Hör auf deine Mutter und halte dich von allem fern, was dich nichts angeht. Paß gut auf.]

Hör auf deine Mutter... Paß gut auf. Diese Worte faßten Bertha Roberts' Ansichten über die Kunst und Wissenschaft der Kindererziehung ziemlich gut zusammen, nicht wahr? Ob es sich um den Befehl handelte, nach dem Essen eine Stunde zu warten, bevor man schwimmen ging, oder darauf zu achten, daß einem der alte Halsabschneider Butch Bowers nicht eine Menge verfaulte Kartoffeln unten in den Korb getan hatte, den man holen gehen sollte, der Prolog (Hör auf deine Mutter) und der Epilog (Paß gut auf) waren stets dieselben. Und wenn man nicht auf sie hörte, und wenn man nicht aufpaßte, mußte man mit Mutters Zorn rechnen, und dann helfe einem Gott.

Sie hob die Nadeln auf und fing wieder an zu stricken, wobei sie die scharlachroten Maschen mit Fingern weiterschob, die selbst ein wenig rot aussahen. Ralph vermutete, daß das nur eine Illusion war. Möglicherweise war die Farbe auch nicht völlig echt und färbte auf seine Finger ab.

Seine Finger? Was war denn das für ein dummer Fehler. Ihre Finger.

Andererseits...

Nun, sie hatte kleine Büschel von Schnurrbarthaaren an den Mundwinkeln. Lange. Irgendwie wüst. Und unbekannt. Ralph konnte sich an einen feinen Flaum auf ihrer Oberlippe erinnern, aber ein Schnurrbart? Auf keinen Fall. Der war neu.

Neu? Neu? Was denkst du da? Sie ist zwei Tage nach dem Attentat auf Robert Kennedy in Los Angeles gestorben, also was, in Gottes Namen, kann neu an ihr sein?