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Einen Augenblick sah er Eds blasses, hübsches Gesicht das Gesicht des Highwayman, der in dem Gedicht, das Carolyn immer zum Weinen gebracht hatte, zur Tür des alten Gasthauses kam -, und seine bisherigen Empfindungen von Mitleid und Bedauern wurden von Wut verdrängt. Es war schwierig, wirklich wütend auf Ed zu werden - schließlich war auch er nur eine Schachfigur, die auf dem Brett herumgeschoben wurde -, aber das Gebäude, das er mit seinem Flugzeug anvisierte, war voller Menschen. Unschuldiger Menschen. Ralph sah etwas Trotziges, Kindisches und Halsstarriges unter dem benommenen, verwirrten Gesichtsausdruck von Ed, und als er durch die Cockpitwand trat, dachte Ralph: Ich glaube, auf einer Ebene hast du gewußt, daß der Teufel hereingekommen ist, Ed. Ich glaube, du hättest ihn sogar wieder hinauswerfen können... haben Mr. K. und Mr. L. nicht gesagt, daß es immer eine Alternative gibt? Wenn ja, trägst du zumindest zum Teil die Verantwortung hierfür, du Dreckskerl.

Einen Moment ragte Ralphs Kopf durch die Decke wie vorhin auch, und er kniete sich hin. Jetzt beanspruchte das Bürgerzentrum die gesamte Windschutzscheibe des Flugzeugs ein, und er sah ein, daß es zu spät war, Ed daran zu hindern, etwas zu tun.

Ed hatte die Türklingel von dem Klebeband abgerissen und hielt sie in der Hand.

Ralph griff in die Tasche, nahm den verbliebenen Ohrring und hielt ihn wieder so zwischen den Fingern, daß die Spitze dazwischen herausragte. Mit der anderen Hand ergriff er die Kabel, die zwischen der Klingel und dem Pappkarton verliefen. Dann schloß er die Augen, konzentrierte sich und rief wieder das angespannte Gefühl mitten in seinem Kopf herbei. Er spürte ein plötzliches hohles Flattern im Magen und dachte sich: Mann! Das ist der Expreßlift!

Dann befand er sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen, wo es keine Götter oder Teufel gab, keine kahlköpfigen Ärzte mit magischen Scheren oder Skalpells, keine Auren. Unten, wo es unmöglich war, durch Wände zu gehen oder einen Flugzeugabsturz zu überleben. Auf der Ebene der Kurzfristigen, wo man ihn sehen konnte... und das, wurde Ralph klar, tat Ed gerade.

»Ralph?« Es war die nuschelnde Stimme eines Mannes, der gerade aus dem tiefsten Schlaf seines Lebens erwacht. »Ralph Roberts? Was machst du denn hier?«

»Oh, ich war gerade in der Gegend und dachte mir, ich schau mal vorbei.« Und damit schloß er die Faust und riß die Kabel aus dem Karton.

»Nein!« schrie Ed. »O nein, nicht, du verdirbst alles!«

Ja, wirklich, dachte Ralph, dann griff er über Eds Schoß hinweg nach dem Steuerknüppel der Cherokee. Das Bürgerzentrum lag keine vierhundert Meter mehr unter ihnen, möglicherweise noch weniger. Ralph wußte immer noch nicht mit Sicherheit, was sich in dem auf dem Sitz des Copiloten festgeschnallten Karton befand, aber er hatte eine Ahnung, daß es sich um den Plastiksprengstoff handeln könnte, den Terroristen immer in den Kampfsportfilmen mit Chuck Norris oder Steven Segal benützten. Der sollte ziemlich stabil sein - nicht wie das Nitroglyzerin in Clouzots Lohn der Angst -, aber dies war sicher nicht der Zeitpunkt, sich auf das Evangelium der Filmbranche zu verlassen. Und selbst ein stabiler Sprengstoff konnte ohne Zünder explodieren, wenn er aus einer Höhe von fast dreitausend Metern fiel.

Er drückte den Steuerknüppel, so weit er konnte, nach links. Unter ihnen drehte das Bürgerzentrum auf schwindelerregende Weise ab, als wäre es auf die Spindel eines gewaltigen Kreisels montiert.

»Nein, du Dreckskerl!« schrie Ed, und etwas, das sich wie der Kopf eines kleinen Hammers anfühlte, traf Ralph an der Seite, lahmte ihn fast vor Schmerzen und machte es ihm unmöglich zu atmen. Seine Hand glitt vom Steuerknüppel ab, als Ed wieder auf ihn einschlug, diesmal in die Achselhöhle. Ed ergriff den Steuerknüppel und riß ihn heftig zurück. Das Bürgerzentrum, das im Sichtfeld der Windschutzscheibe zur Seite geglitten war, bewegte sich wieder Richtung Zentrum.

Ralph streckte die Hand nach dem Knüppel aus. Ed drückte Ralph die Handfläche auf die Stirn und stieß ihn zurück. »Warum hast du dich nicht raushalten können?« fauchte er. »Warum hast du dich einmischen müssen?« Er hatte die Zähne gefletscht und die Lippen zu einer eifersüchtigen Grimasse verzerrt. Daß Ralph im Cockpit aufgetaucht war, hätte ihm einen lähmenden Schock versetzen müssen, aber das hatte es keineswegs.

Natürlich nicht, er ist verrückt, dachte Ralph, und plötzlich erhob er seine innere Stimme zu einem Ruf voller Panik:

Klotho! Lachesis! Um Himmels willen, helft mir!

Nichts. Es sah nicht so aus, als hätte sein Ruf irgend jemanden erreicht. Warum auch? Er befand sich wieder auf der Ebene der Kurzfristigen, und das bedeutete, er war auf sich selbst gestellt.

Das Bürgerzentrum war jetzt nur noch etwa zweihundertvierzig bis zweihundertsiebzig Meter unter ihnen. Ralph konnte jeden Backstein, jedes Fenster, jede Person sehen, die davor stand -er konnte fast sagen, wer von ihnen Schilder trug. Sie sahen auf und versuchten herauszubekommen, was dieses verrückte Flugzeug hier zu suchen hatte. Ralph konnte die Angst in ihren Gesichtern nicht sehen, noch nicht, aber noch drei oder vier Sekunden -

Er warf sich wieder auf Ed, achtete nicht auf das Pochen in seiner linken Seite, und stieß mit der rechten Faust zu, wobei er die Spitze des Ohrrings mit dem Daumen so weit er konnte zwischen den Fingern hinausdrückte.

Der Trick mit dem goldenen Ohrring hatte beim Scharlachroten König funktioniert, aber da war er höher oben gewesen und hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt. Auch diesmal zielte Ralph nach dem Auge, aber Ed wandte im letzten Moment den Kopf ab. Der Dorn bohrte sich dicht über dem Wangenknochen in Eds Gesicht. Ed schlug ihn weg wie eine Stechmücke und hielt dabei weiter mit der linken Hand den Steuerknüppel fest.

Ralph wollte sich wieder auf den Knüppel stürzen. Ed schlug nach ihm. Seine Faust traf über dem linken Auge und stieß Ralph zurück. Ein einziger lauter Ton, rein und silbern, hallte ihm in den Ohren. Es war, als befände sich eine gewaltige Stimmgabel irgendwo zwischen ihnen, die jemand angeschlagen hatte. Die Welt wurde grau wie eine körnige Zeitungsfotografie.

[»RALPH! BEEIL DICH!«]

Das war Lois, völlig entsetzt. Er wußte warum; die Zeit war so gut wie abgelaufen. Ihm blieben bestenfalls fünf Sekunden. Er warf sich wieder nach vorne, aber diesmal nicht auf Ed, sondern auf das Bild von Helen und Nat, das über dem Höhenmesser festgeklebt worden war. Er riß es ab, hielt es hoch... und zerknüllte es zwischen den Fingern. Er wußte nicht genau, mit was für einer Reaktion er gerechnet hatte, aber sie übertraf seine kühnsten Erwartungen.

»GIB SIE ZURÜCK!« schrie Ed. Er vergaß den Steuerknüppel und griff statt dessen nach dem Bild. Dabei sah Ralph wieder den Mann, den er an dem Tag zu sehen bekommen hatte, als er Helen verprügelt hatte - ein Mann, der verzweifelt unglücklich war und sich vor den in ihm freigesetzten Kräften fürchtete. Tränen standen ihm nicht nur in den Augen, sondem liefen an seinen Wangen hinab, und Ralph dacht verwirrt: Hat er die ganze Zeit geweint?

»GIB SIE ZURÜCK!« bellte er wieder, aber Ralph war nicht mehr sicher, ob der Schrei ihm galt; er dachte, daß sein ehemaliger Nachbar möglicherweise das Wesen ansprach, das in sein Leben getreten war, sich vergewissert hatte, daß es geeignet schien, und es dann einfach übernommen hatte. Lois' Ohrring funkelt an Eds Wange wie ein barbarisches Trauerornament. »GIB SIE ZURÜCK, SIE GEHÖREN MIR!«

Ralph hielt die zerknüllte Fotografie gerade außerhalb der Reichweite von Eds fuchtelnden Armen. Ed sprang, der Sicherheitsgurt schnitt ihm in den Bauch, und Ralph schlug ihm, so fest er konnte, gegen die Kehle und verspürte eine unbeschreibliche Mischung aus Befriedigung und Ekel, als der Schlag auf der harten, knorpeligen Wölbung von Eds Adamsapfel landete. Ed fiel in den Sitz zurück, die Augen quollen ihm vor Schmerzen und Bestürzung aus den Höhlen, und er griff sich mit den Händen an den Hals. Ein ersticktes, würgendes Geräusch drang aus seinem Inneren. Es hörte sich an wie das Getriebe einer gigantischen Maschine, die im Begriff war, sich festzufressen.