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Sonia war wie gebannt von Susan Day, die hinter dem Rednerpult saß und ihrer Einführungsrede zuhörte, aber sie sah kurz vor dem Ende der Rede auch auf das Bild ihres Sohnes. Sie wußte seit zwei Jahren, daß Patrick das war, was Psychologen ein Wunderkind nannten, und sie redete sich manchmal ein, daß sie sich an die komplexen Bilder und Play-Doh-Skulpturen gBwöhnt hatte, die er seine Knetfamilie nannte. Vielleicht stimmte das bis zu einem gewissen Grad, aber dieses spezielle Bild erfüllt sie mit einem seltsamen Frösteln, das sie nicht völlig als emotionale Auswirkung des langen, aufregenden Tags abtun konnte.

»Wer ist das?« fragte sie und deutete auf die winzige Gestalt, die eifersüchtig vom Gipfel des dunklen Turms herabsah.

»Der ist der Rote König«, sagte Patrick.

»Oh, der Rote König. Ich verstehe. Und wer ist der Mann mit den Revolvern?«

Als er den Mund aufmachte, um zu antworten, hob Barbara Richards, die Frau am Rednerpult, den rechten Arm (sie trug einen schwarzen Trauerflor daran) und deutete auf die Frau, die hinter ihr saß. »Meine Freunde, Ms. Susan Day!« rief sie, und Patricks Antwort auf die zweite Frage seiner Mutter ging im donnernden Beifall unter:

Der heißt Roland, Mama. Manchmal träume ich von ihm. Der ist auch ein König.

Jetzt saßen die beiden mit klingelnden Ohren in der Dunkelheit, und zwei Gedanken gingen Sonia durch den Kopf wie Ratten, die einander in einem Laufrad jagen: Nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag nie ein Ende, ich wußte, ich hätte ihn nicht mitnehmen sollen, nimmt dieser Tag -

»Mommy, du zerdrückst mein Bild!« sagte Patrick. Er klang ein wenig atemlos, und Sonia wurde bewußt, daß sie auch ihn zerdrückte. Sie lockerte ihren Griff ein wenig. Ein zusammenhangloses Durcheinander von Schreien, Rufen und stammelnden Fragen drang aus der dunklen Grube unter ihnen herauf, wo die Leute, die reich genug waren, daß sie sich eine »Spende« von fünfzehn Dollar leisten konnte, auf Klappstühlen saßen. Ein durchdringender Schmerzensschrei übertönte das allgemeine Murmeln, und Sonia zuckte auf dem Sitz zusammen.

Der donnernde Knall unmittelbar nach der Explosion hatte schmerzhaft auf ihre Ohren gedrückt und das Gebäude in seinen Grundmauern erschüttert. Verglichen damit hörte sich der fortwährende Lärm - Autos, die auf dem Parkplatz wie Kracher explodierten -, leise und unbedeutend an, aber Sonia spürte dennoch, wie Patrick sich bei jedem neuen Knall an sie drückte.

»Ganz ruhig, Pat«, sagte sie zu ihm. »Etwas Schlimmes ist geschehen, aber ich glaube, es ist draußen passiert.« Da sie zu den grell erleuchteten Fenstern gesehen hatte, hatte Sonia barmherzigerweise nicht mitbekommen, wie der Heldin der Kopf von den Schultern getrennt worden war, aber sie wußte, daß der Blitz irgendwie tatsächlich zweimal an derselben Stelle eingeschlagen hatte (hätte ihn nicht mitnehmen sollen, hätte ihn nicht mitnehmen sollen) und zumindest ein Teil der Leute unter ihnen in Panik ausgebrochen war. Wenn sie in Panik geriete, würden sie und der junge Rembrandt ernste Probleme bekommen.

Aber das werde ich nicht. Ich bin heute morgen nicht aus dieser Todesfalle entkommen, nur um jetzt in Panik zu geraten. Der Teufel soll mich holen, wenn ich das tue.

Sie griff nach unten und nahm eine von Patricks Händen - die freie, nicht die, mit der er das Bild hielt. Sie war sehr kalt.

»Glaubst du, die Engel werden wiederkommen und uns retten, Mama?« fragte er mit leicht zitternder Stimme.

»Nee«, sagte sie. »Ich glaube, diesmal sollten wir es selbst tun. Aber das können wir. Ich meine, jetzt ist doch alles in Ordnung mit uns, oder nicht?«

»Ja«, sagte er, aber dann ließ er sich gegen sie sinken. Sie hatte einen schrecklichen Augenblick Angst, er hätte das Bewußtsein verloren und sie würde ihn auf den Armen aus dem Bürgerzentrum hinaustragen müssen, aber dann richtete er sich wieder auf. »Meine Bücher war'n auf dem Boden«, sagte er. »Ich wollte nicht ohne meine Bücher gehen, besonders das über den Jungen, der seinen Hut nicht abnehmen kann. Gehen wir jetzt, Mama?«

»Ja. Sobald die Leute da unten nicht mehr herumlaufen. Auf dem Flur gibt es bestimmt Lichter, die mit Batterien laufen, auch wenn sie hier drinnen ausgefallen sind. Wenn ich sage, wir stehen auf, dann gehen - gehen! - wir die Stufen hinauf zur Tür. Ich werde dich nicht tragen, aber ich werde direkt hinter dir gehen und dir beide Hände auf die Schultern legen. Hast du verstanden, Pat?«

»Ja, Mama.« Keine Fragen. Kein Blubbern. Nur seine Bücher, die er ihr zur sicheren Verwahrung in die Hände drückte. Das Bild behielt er selbst. Sie umarmte ihn kurz und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

Sie warteten etwa fünf Minuten auf dem Sitz, während sie langsam bis dreihundert zählte. Sie spürte, daß ihre unmittelbaren Nachbarn gegangen waren, bevor sie hundertfünfzig erreicht hatte, aber sie wartete trotzdem. Jetzt konnte sie ein wenig sehen; soviel, daß sie glaubte, draußen müsse etwas lichterloh in Flammen stehen, aber auf der anderen Seite des Gebäudes. Das war ein Glück. Sie konnte das irre Heulen von näherkommenden Polizeiautos, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeugen hören.

Sonia stand auf. »Komm. Bleib dicht vor mir.«

Pat Danville trat auf den Gang, wo ihm seine Mutter die Hände auf die Schultern drückte. Er führte sie die Stufen hinauf zu den mattgelben Lichtern, die den Korridor des nördlichen Balkons erhellten, und blieb nur einmal stehen, als der dunkle Umriß eines laufenden Mannes auf se zugeschnellt kam. Die Hände seiner Mutter packten seine Schultern fester, als sie ihn zur Seite riß -

»Gottverdammte Abtreibungsgegner!« schrie der laufende Mann. »Elende selbstgefällige Scheißer! Am liebsten würde ich sie alle umbringen!«

Dann war er fort, und Pat ging weiter die Stufen hinauf. Sie spürte jetzt eine Ruhe in ihm, eine Besonnenheit ohne eine Spur von Angst, die ihr Herz mit Liebe erfüllte und mit einer sonderbaren Art von Dunkelheit. Er war so anders, ihr Sohn, so etwas Besonderes... aber die Welt liebte solche Menschen nicht. Die Welt versuchte, sie auszurotten, wie Unkraut im Garten.

Schließlich traten sie in den Korridor hinaus. Ein paar Leute in tiefem Schock wanderten mit benommenen Blicken und offenen Mündern hin und her wie Zombies in einem Horror Film. Sonia beachtete sie kaum, sie schob Pat einfach weiter Richtung Treppe. Drei Minuten später standen sie völlig unversehrt in der lodernden Nacht vor dem Gebäude, und in sämtlichen Ebenen des Universums setzten Plan und Zufall ihren vorherbestimmten Kurs fort. Welten, die einen Augenblick auf ihren Bahnen erbebt waren, wurden wieder stabil, und auf einer dieser Welten, in einer Wüste, die der Inbegriff aller Wüsten war, drehte sich ein Mann namens Roland in seinem Schlafsack um und schlief wieder ruhig unter den fremdartigen Sternbildern.

Auf der anderen Seite der Stadt, im Strawford Park, flog die Tür des Port-O-San mit der Aufschrift MÄNNER auf. Lois Chasse und Ralph Roberts wurden rückwärts inmitten einer Rauchwolke herausgeschleudert und hielten einander fest. Aus dem Port-O-San ertönte das Geräusch der abstürzenden Cherokee und dann die Explosion des Plastiksprengstoffs. Ein weißer Lichtblitz war zu sehen, und die blauen Wände der Toilette wölbten sich nach außen, als hätte ein Riese mit der Faust dagegengeschlagen. Eine Sekunde später hörten sie die Explosion noch einmal; diesmal, als sie durch die Luft zu ihnen herübergetragen wurde. Die zweite Version war leiser, aber irgendwie realer.

Lois stolperte und fiel mit einem Schrei, der teilweise Erleichterung ausdrückte, auf dem Hügel ins Gras. Ralph landete neben ihr, richtete sich aber gleich in eine sitzende Haltung auf. Er sah ungläubig zum Bürgerzentrum, wo sich eine Faust aus Feuer am Horizont ballte. Eine purpurne Schwellung, so groß wie ein Türknauf, wuchs mitten auf Ralphs Stirn, wo Ed ihn geschlagen hatte. Seine linke Seite pochte immer noch, aber er dachte, daß die Rippen wahrscheinlich nur angeknackst waren, nicht gebrochen.