Выбрать главу

([hallo Frau, hallo Mann, wir haben auf euch gewartet]) mehr als Außergewöhnliches in diesem Zimmer zugetragen, und als er Fayes trockene, kraftlose Hand nahm und in Fayes ängstliche, verwirrte Augen sah, kam ihm ein seltsamer Gedanke: Sie stehen genau da drüben in der Ecke und beobachten uns.

Er sah hinüber. Selbstverständlich stand niemand in der Ecke, aber einen Augenblick... nur einen Augenblick...

Das Leben in den Jahren von 1993 bis 1998 ging seinen Gang, wie es in Städten wie Derry immer der Fall ist: Aus den Knospen des April wurden die trockenen, fallenden Blätter des Oktober; Mitte Dezember wurden Weihnachtsbäume in die Häuser getragen und in der ersten Januarwoche mit Resten von Lametta, die noch traurig an den Zweigen hingen, wieder mit den Müllwagen abtransportiert; Babys kamen zum Eingang herein, und alte Leute gingen durch den Ausgang hinaus. Manchmal gingen auch Menschen im besten Alter durch den Ausgang hinaus.

In Derry waren es fünf Jahre der Haarschnitte und Dauerwellen, der Stürme und Schulabschlußfeiern, des Kaffees und der Zigaretten, der Steakessen in Parker's Cove und der Hot Dogs auf dem Spielfeld der Jugendliga. Mädchen und Jungen verliebten sich, Betrunkene fielen aus ihren Autos, kurze Röcke fielen in Ungnade. Die Leute deckten ihre Dächer neu und besserten die Einfahrten aus. Alte Flaschen wurden aus ihren Ämtern abgewählt und neue Flaschen hineingewählt. Es war das Leben, häufig unbefriedigend, manchmal grausam, normalerweise langweilig, manchmal wunderschön, ab und zu erfreulich. Die grundsätzlichen Dinge blieben erhalten, während die Zeit verging.

Im Frühherbst des Jahres 1 996 kam Ralph zu der Überzeugung, daß er Darmkrebs hätte. Er sah mehr als nur Spuren von Blut im Stuhl, und als er schließlich zu Dr. Pickard ging (Dr. Litchfields fröhlichem, schnodderigen Nachfolger), hatte er Visionen von Krankenhausbetten und Chemotherapie und IV-Tropfs, die trostlos in seinem Kopf tanzten. Aber statt um Darmkrebs handelte es sich um eine Hämorrhoide, die, mit Dr. Pickards denkwürdigem Ausdruck, »den Korken rausgedrückt« hatte. Er schrieb Ralph ein Rezept für Zäpfchen, mit dem Ralph zum Rite Aid ging. Joe Wyzer las es und grinste Ralph feixend an. »Beschissen«, sagte er, »aber auf jeden Fall um Klassen besser als Darmkrebs, oder nicht?«

»Ich habe nie an Darmkrebs gedacht«, antwortete Ralph steif.

Eines Tages im Winter 1997 setzte Lois es sich in den Kopf, mit Nats Plastikschlitten, der wie eine fliegende Untertasse aussah, ihren Lieblingshügel im Strawford Park hinunterzufahren. Sie fuhr »schneller als ein Schwein auf einer eingeschmierten Rutsche« (das war der Ausdruck von Don Veazie, der an dem Tag zufällig vorbeikam und alles mit ansah) und knallte gegen das Port-O-San mit der Aufschrift FRAUEN. Sie stieß sich das Knie an und verrenkte sich den Rücken, und obwohl Ralph wußte, daß er es nicht tun sollte - es war zumindest äußerst herzlos -, lachte er fast den ganzen Weg zur Notaufnahme von Herzen. Die Tatsache, daß Lois trotz ihrer Schmerzen ebenfalls vor Lachen brüllte, trug auch nicht gerade dazu bei, daß Ralph sich wieder unter Kontrolle bekam. Er lachte, bis ihm Tränen aus den Augen quollen, und er fürchtete, er könnte einen Schlaganfall erleiden. Sie hatte einfach so gottverdammt wie unsere Lois ausgesehen, als sie auf diesem Ding den Hügel hinuntergerast war, immer im Kreis herum, die Beine über Kreuz wie ein Yogi aus dem geheimnisvollen Osten, und sie hätte das Port-O-San fast umgestoßen, als sie dagegen prallte. Als der Frühling kam, hatte sie sich wieder völlig erholt, obwohl ihr das Knie an regnerischen Tagen immer zu schaffen machte und sie es gründlich satt bekam, daß Don Veazie sich jedesmal, wenn er sie sah, danach erkundigte, ob sie in letzter Zeit mal wieder mit einem Scheißhaus zusammengestoßen wäre.

Das Leben nahm seinen Lauf wie üblich - was bedeutet, weitgehend zwischen den Zeilen und außerhalb der Ränder. Dem einen oder anderen Weisen zufolge ist es das, was passiert, während wir andere Pläne machen, und wenn das Leben in jenen Jahren besonders gut zu Ralph Roberts war, dann vielleicht deshalb, weil er keine anderen Pläne hatte. Er blieb mit Joe Wyzer und John Leydecker befreundet, aber sein bester Freund in all den Jahren war seine Frau. Sie gingen fast überall gemeinsam hin, hatten keine Geheimnisse voreinander und stritten selten, so gut wie nie, könnte man sagen. Außerdem hatte er den Beagle Rosalie, den Schaukelstuhl, der Mr. Chasse gehört hatte, jetzt aber seiner war, und fast täglich Besuche von Natalie (die sie jetzt Ralph und Lois statt Walf und Roliss nannte, eine Veränderung, die beide nicht als Verbesserung ansahen). Und er war gesund, was möglicherweise das Allerbeste war. Es war einfach das Leben, voll kurzfristiger Belohnungen und Rückschläge, und Ralph genoß es voll Freude und Ausgeglichenheit bis Mitte März 1998, als er eines Morgens aufwachte, auf die Digitaluhr neben dem Bett sah und feststellte, daß es 5:49 Uhr war.

Er lag still neben Lois, weil er sie nicht stören wollte, indem er aufstand, und fragte sich, was ihn geweckt hatte.

Das weißt du doch, Ralph.

Nein.

Doch, du weißt es. Hör gut hin.

Also hörte er gut hin. Er hörte ganz genau hin. Und nach einer Weile konnte er es in den Wänden hören: das leise, sanfte Ticken der Todesuhr.

Ralph erwachte am folgenden Morgen um 547 und am Morgen darauf um 5:44 Uhr. Sein Schlaf schwand Minute für Minute, während der Winter Derry langsam aus seinem Griff entließ und dem Frühling Platz machte. Im Mai hörte er das Ticken der Todesuhr überall, wußte aber, es kam nur von einem einzigen Punkt und projizierte sich, wie ein guter Bauchredner seine Stimme projizieren kann. Beim erstenmal war es aus Carolyn gekommen. Jetzt kam es aus ihm.

Er verspürte weder die Angst wie bei dem Gedanken, er könnte Krebs haben, noch die Verzweiflung, an die er sich von seiner früheren Phase der Schlaflosigkeit erinnerte. Er wurde schneller müde, und es fiel ihm schwerer, sich zu konzentrieren und sich auch nur an einfache Dinge zu erinnern, aber er fügte sich gelassen in das, was geschah.

»Schläfst du gut, Ralph?« fragte Lois ihn eines Tages. »Du bekommst große dunkle Ringe unter den Augen.«

»Das liegt an den Drogen, die ich nehme«, sagte Ralph.

»Sehr witzig, du alter Narr.«

Er nahm sie in die Arme und drückte sie. »Mach dir um mich keine Sorgen, Liebling - ich bekomme soviel Schlaf, wie ich brauche.«

Eine Woche später erwachte er morgens um 4:02 Uhr und spürte einen pochenden Strang starker Hitze in seinem Arm -sie pochte in perfektem Einklang mit dem Ticken der Todesuhr, die selbstverständlich nichts anderes als sein eigener Herzschlag war. Aber dieses neue Ding war nicht sein Herz, jedenfalls glaubte Ralph das nicht; es war, als wäre ein Stromkabel ins Fleisch seines Unterarms eingepflanzt worden.

Das ist die Narbe, dachte er, und dann: Nein, es ist das Versprechen. Die Zeit des Versprechens ist fast gekommen.

Welches Versprechen, Ralph? Welches Versprechen?

Er wußte es nicht.

Eines Tages Anfang Juni kamen Helen und Nat zu Besuch und erzählten Ralph und Lois von einem Ausflug nach Boston mit »Tante Melanie«, einer Bankangestellten, mit der Helen eng befreundet war. Helen und Tante Melanie waren zu einer feministischen Versammlung gegangen, während Natalie im Tageszentrum mit etwa einer Milliarde neuer Kinder Freundschaft schloß, und dann war Tante Melanie zu weiteren feministischen Aktivitäten nach New York und Washington weitergereist. Helen und Nat waren ein paar Tage in Boston geblieben, um die Sehenswürdigkeiten zu bewundern.

»Wir haben einen Zeichentrickfilm gesehen«, sagte Natalie. »Er handelte von Tieren im Wald. Sie haben gesprochen!« Das letzte Wort sprach sie mit Shakespearscher Grandeur ausgesprochen.