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Natalie sah das Auto nicht; sie sah zu Lois, deren Gesicht rot und erschrocken war. Plötzlich fiel Nat ein, daß Lois vielleicht gar nicht wegen Rosie schrie, sondern wegen etwas ganz anderem.

Pat registrierte den laufenden Beagle; das kleine Mädchen sah er nicht. Er schwenkte, um Rosalie auszuweichen, ein Manöver, das damit endete, daß der Ford direkt auf Natalie zufuhr. Ralph konnte zwei ängstliche Gesichter hinter der Windschutzscheibe sehen, als das Auto herumgerissen wurde, und er glaubte, daß Mrs. Sullivan schrie.

Atropos hüpfte auf und ab und schlug sich auf die Schenkel wie ein Seemann, der einen Hornpipe tanzt.

[Jaaaa, Kurzer! Dummer weißhaariger Trottel! Ich hob dir ja gesagt, ich werd's dir zeigen!]

Helen ließ den Laib Brot, den sie trug, in Zeitlupe fallen. »Natalie, PASS AUUUUUUF!« schrie sie.

Ralph lief los. Wieder hatte er den deutlichen Eindruck, als würde er sich allein kraft seiner Gedanken bewegen. Und als er mit ausgestreckten Händen auf Nat zurannte und das Auto sah, das unmittelbar hinter ihr war, während ihm durch das Leichentuch grelle Sonnenstrahlen in die Augen fielen, verkrampfte er seinen Geist wieder und sank zum letztenmal auf die Ebene der Kurzfristigen zurück.

Er fiel in eine Landschaft, in der abgehackte Schreie ertönten: Der von Helen vermischte sich mit dem von Lois, der sich mit denen der Reifen des Ford vermischte. Und wie der wilde Trieb einer Ranke wand sich der Jubel von Atropos durch alle hindurch. Ralph sah ganz kurz Nats aufgerissene blaue Augen, dann stieß er sie so fest er konnte in Brust und Bauch, so daß sie mit rudernden Händen und Füßen nach hinten flog. Sie landete aufrecht sitzend im Rinnstein und stieß sich den Steiß am Bordstein an, brach sich aber nichts. Von einem fernen Ort hörte Ralph Atropos voller Wut und Fassungslosigkeit kreischen.

Dann wurde Ralph von dem zwei Tonnen schweren Ford getroffen, der immer noch mit zwanzig Meilen pro Stunde fuhr, und die Geräuschkulisse verstummte unvermittelt. Er wurde in einem langsamen, steilen Bogen in die Höhe und nach hinten geschleudert - ihm kam es jedenfalls im Inneren langsam vor -, der Kühlerschmuck des Ford prägte sich in seine Wange ein wie eine Tätowierung, und ein gebrochenes Bein hatte er auch. Er konnte noch seinen Schatten sehen, der wie ein X auf dem Asphalt unter ihm dahinglitt; er konnte noch einen Sprühregen roter Tropfen über sich in der Luft sehen und dachte, Lois müßte doch mehr rote Farbe auf ihn gespritzt haben, als er zunächst angenommen hatte. Und er konnte Natalie sehen, die weinend, aber unversehrt am Straßenrand saß... und Atropos auf dem Bürgersteig hinter ihr spüren, wo er die Fäuste schüttelte und vor Wut tanzte.

Ich glaube, für einen alten Tattergreis hab ich es verdammt gut gemacht, dachte Ralph, aber jetzt würde mir wirklich ein Nickerchen guttun.

Dann landete er mit einem schrecklichen, tödlichen Aufprall auf dem Boden - sein Schädel barst, die Wirbelsäule brach, die Lunge wurde von Knochensplittern durchbohrt, als seine Rippen explodierten, die Leber wurde zu Brei und seine Eingeweide lösten sich und rissen.

Und nichts tat weh.

Überhaupt nichts.

Lois vergaß nie das schreckliche dumpfe Geräusch, das Ralphs Aufprall auf der Harris Avenue begleitete, ebensowenig die Blutspritzer, die er hinterließ, als er, sich überschlagend, zum Stillstand kam. Sie wollte schreien, wagte es aber nicht; eine tiefe, aufrichtige innere Stimme verriet ihr, wenn sie es täte, würde sie durch die Kombination von Schock, Grauen und Sommerhitze das Bewußtsein verlieren und auf den Bürgersteig sinken, und wenn sie zu sich käme, würde Ralph nicht mehr da sein.

Statt zu schreien, lief sie los, verlor einen Schuh und bekam nur am Rande mit, daß Pat Sullivan aus dem Ford ausstieg, der fast genau an derselben Stelle stand, wo Joe Wyzers Auto ebenfalls ein Ford - vor vielen Jahren gestanden hatte, nachdem er Rosalie Nr. 1 überfahren hatte. Sie bekam auch nur am Rande mit, daß Pat schrie.

Sie kam zu Ralph, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und sah, daß seine Gestalt irgendwie durch den grünen Ford verändert worden war, daß sich der Körper unter der vertrauten Chinohose und dem farbverspritzten Hemd radikal von dem unterschied, den sie noch vor einer Minute an sich gepreßt hatte. Aber seine Augen waren offen, und sie blickten strahlend und lebhaft.

»Ralph?«

»Ja.« Seine Stimme klang deutlich und kräftig, weder von Verwirrung noch von Schmerzen beeinträchtigt. »Ja, Lois, ich höre dich.«

Sie wollte die Arme um ihn legen, zögerte aber, weil ihr einfiel, daß man Schwerverletzte nicht bewegen sollte, weil man sie noch schlimmer verletzen oder gar töten konnte. Dann sah sie ihn wieder an, sah das Blut, das aus seinen Mundwinkeln lief und den Unterkörper, der sich vom Oberkörper gelöst zu haben schien, und kam zu dem Ergebnis, daß es unmöglich wäre, Ralph noch schwerer zu verletzen, als er es bereits war. Sie umarmte ihn, beugte sich zu ihm und nahm die Gerüche des Desasters in sich auf: Blut und den süßsauren Acetongeruch verbrauchten Adrenalins in seinem Atem.

»Diesmal hast du es geschafft, was?« fragte Lois. Sie küßte seine Wange, seine blutigen Augenbrauen, die blutige Stirn, wo sich ein Hautlappen vom Schädel gelöst hatte. Sie fing an zu weinen. »Sieh dich doch an! Hemd zerrissen, Hose zerrissen... glaubst du, Kleidungsstücke wachsen auf Bäumen?«

»Ist er verletzt?« fragte Helen hinter ihr. Lois drehte sich nicht um, aber sie sah die Schatten auf der Straße: Helen, die ihrer weinenden Tochter einen Arm um die Schultern gelegt hatte, und Rosie, die neben Helens rechtem Bein stand. »Er hat Nat das Leben gerettet, und ich habe nicht einmal gesehen, woher er gekommen ist. Bitte, Lois, sag mir, daß er n-«

Dann verschoben sich die Schatten, als Helen zu einer Stelle ging, von der sie Ralph tatsächlich sehen konnte, und sie zog Nats Gesicht an ihre Bluse und fing an zu weinen.

Lois beugte sich dichter über Ralph, streichelte seine Wangen mit den Händen, wollte ihm sagen, daß sie mit ihm kommen wollte - das hatte sie gewollt, ja, wirklich, aber am Ende war er zu schnell für sie gewesen. Am Ende hatte er sie zurückgelassen.

»Ich liebe dich, Herzblatt«, sagte Ralph. Er streckte den Arm aus und kopierte ihre Geste mit seiner eigenen Hand. Er versuchte, auch die linke Hand zu heben, aber die lag nur auf dem Asphalt und zuckte.

Lois nahm seine Hand und küßte sie. »Ich liebe dich auch, Ralph. Immer. So sehr.«

»Ich mußte es tun. Verstehst du?«

»Ja.« Sie wußte nicht, ob sie es verstand... aber sie wußte, daß er im Sterben lag. »Ja, ich verstehe.«

Er seufzte rauh - der süßliche Acetongeruch stieg wieder zu ihr auf - und lächelte.

»Miz Chasse? Miz Roberts, meine ich?« Es war Pat, der hektisch nach Luft schnappte. »Geht es Mr. Roberts gut? Bitte sagen Sie, daß ich ihn nicht verletzt habe!«

»Bleib weg, Pat«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Ralph geht es gut. Er hat sich nur das Hemd und die Hose zerrissen... richtig, Ralph?«

»Ja«, sagte er. »Worauf du dich verlassen kannst. Du mußt mich nur prügeln für meine -«

Er verstummte und sah nach links. Niemand war da, aber Ralph lächelte trotzdem. »Lachesis!« sagte er.

Er streckte die zitternde, blutige rechte Hand aus, die sich vor den Augen von Lois, Helen und Pat Sullivan zweimal in der Luft hob und senkte. Ralph verdrehte wieder die Augen, diesmal nach rechts. Als er diesmal sprach, wurde seine Stimme schwächer. »Hi, Klotho. Vergessen Sie nicht: Es... tut nicht... weh. Richtig?«

Ralph schien zu lauschen, dann lächelte er.

»Jawohl«, flüsterte er, »so locker, wie sie nur können.«

Seine Hand hob und senkte sich wieder in der Luft und fiel auf seine Brust zurück. Er sah Lois mit seinen brechenden blauen Augen an.

»Hör zu«, sagte er unter großer Anstrengung. Aber seine Augen blitzten und ließen nicht von ihren ab. »Jeden Tag, wenn ich neben dir aufgewacht bin, war mir, als würde ich jung aufwachen und alles... neu sehen.« Er versuchte, die Hand wieder zu ihrer Wange zu heben, konnte es aber nicht. »Jeden Tag, Lois.«