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»Danke, mein Schatz«, sagte er. »Ich glaube, so etwas Liebes hat mir keiner mehr gesagt, seit Lyndon Johnson Präsident war. Schlaf so gut du kannst, okay?«

»Okay. Du auch.«

Sie legte auf. Ralph betrachtete das Telefon einen oder zwei Augenblicke nachdenklich, dann legte auch er den Hörer auf. Vielleicht würde er ja tatsächlich gut schlafen. Nach allem, was heute passiert war, hatte er das mit Sicherheit verdient. Aber vorerst beschloß er, nach unten zu gehen, auf der Veranda zu sitzen und einfach abzuwarten, was sich später ergeben würde.

5

McGovern war wieder da und fläzte sich in seinen Lieblingssessel auf der Veranda. Er beobachtete irgend etwas weiter oben auf der Straße und drehte sich nicht gleich um, als sein Hausgenosse die Veranda betrat. Ralph folgte seinem Blick und sah einen blauen Kleinbus einen halben Block entfernt am Bordstein der Harris Avenue auf der Seite des Red Apple parken. DERRY MEDICAL SERVICE stand in großen weißen Buchstaben auf der Hecktür.

»Hi, Bill«, sagte Ralph und ließ sich auch in einen Sessel fallen. Der Schaukelstuhl, auf dem Lois Chasse immer saß, wenn sie herüberkam, stand zwischen ihnen. In der Abenddämmerung war eine leichte Brise aufgekommen und wirkte erfrischend nach der Hitze des Nachmittags; der Schaukelstuhl bewegte sich wie von selbst träge hin und her.

»Hi«, sagte McGovern und sah Ralph an. Er wollte sich abwenden, fuhr aber noch einmal herum. »Mann, du solltest besser die Tränensäcke unter deinen Augen hochstecken. Wenn nicht, wirst du bald drauftreten.« Ralph vermutete, das sollte sich wie eines der galligen kleinen Bonmots anhören, für die McGovern in der ganzen Straße berühmt war, aber in seinen Augen stand aufrichtige Besorgnis geschrieben.

»War ein Scheißtag«, sagte er. Er erzählte McGovern von Helens Anruf, ließ aber alles weg, was ihr McGovern gegenüber vielleicht peinlich sein konnte. Bill hatte nie zu ihren besten Freunden gehört.

»Freut mich, daß es ihr gutgeht«, sagte McGovern. »Ich will dir was sagen, Ralph - du hast mich heute nachmittag schwer beeindruckt, als du die Straße entlanggegangen bist wie Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags. Vielleicht war es Wahnsinn, aber es war auch ziemlich cool. Um die Wahrheit zu sagen, ich war schwer beeindruckt von dir.«

Zum zweitenmal innerhalb von fünfzehn Minuten bezeichnete jemand Ralph fast als Helden. Er fühlte sich unbehaglich. »Ich war so wütend auf ihn, daß mir erst später klargeworden ist, wie dumm ich war. Wo bist du gewesen, Bill, ich hab vor einer Weile nach dir gerufen.«

»Ich war auf der Extension spazieren«, sagte McGovern. »Hab versucht, meinen Motor etwas abzukühlen, denke ich. Mir war schlecht, und ich hatte Kopfweh seit Johnny Leydecker und der andere Ed mitgenommen haben.«

Ralph nickte. »Ich auch.«

»Wirklich?« McGovern sah ihn überrascht und ein wenig skeptisch an.

»Wirklich«, antwortete Ralph mit einem knappen Lächeln.

»Wie auch immer, Faye Chapin war draußen beim Picknickgelände, wo die alten Tattergreise normalerweise herumhängen, wenn es warm ist, und hat mich zu einer Partie Schach eingeladen. Das ist vielleicht eine Marke, Ralph - er hält sich für die Reinkarnation von Ruy Lopez, dabei spielt er Schach mehr wie Soupy Sales... und hält nicht eine Sekunde lang den Mund.«

»Aber Faye ist in Ordnung«, sagte Ralph leise.

McGovern schien ihn nicht gehört zu haben. »Und dieser gruselige Dorrance Marstellar war auch dort«, fuhr er fort. »Wenn wir alt sind, dann ist der ein Fossil. Er steht einfach mit einem Gedichtband in der Hand am Zaun zwischen dem Picknickplatz und dem Flughafen und schaut den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Was meinst du, liest er die Bücher wirklich, die er herumträgt, oder sind sie nur Requisiten?«

»Gute Frage«, sagte Ralph, aber er dachte über das Wort nach, das McGovern benutzt hatte, um Dorrance zu beschreiben -gruselig. Er selbst hätte es nicht benützt, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der alte Dor ein Original war. Er war nicht senil (jedenfalls glaubte Ralph das nicht); es war mehr, als wären seine wenigen Bemerkungen das Produkt eines leicht verschrobenen Geistes und einer leicht gekrümmten Wahrnehmung.

Er erinnerte sich, daß Dorrance letzten Sommer dabeigewesen war, als Ed mit dem Fahrer des Lastwagens aneinandergeraten war. Damals hatte er geglaubt, daß Dorrance' Ankunft den Festivitäten die Krone des Irrsinns aufsetzte. Und Dorrance hatte etwas Komisches gesagt. Ralph versuchte, sich daran zu erinnern, konnte es aber nicht.

McGovern sah wieder die Straße entlang, wo ein pfeifender junger Mann im Overall gerade aus dem Haus gekommen war, vor dem der Kleinbus von Medical Services parkte. Dieser junge Mann, der aussah, als wäre er höchstens vierundzwanzig und hätte in seinem ganzen Leben noch keinen medizinischen Beistand gebraucht, schob einen Wagen, auf den eine lange grüne Gasflasche geschnallt war.

»Das ist die leere«, sagte McGovern. »Du hast verpaßt, wie sie die volle reingebracht haben.«

Ein zweiter junger Mann, ebenfalls in einen Overall gekleidet, kam zur Eingangstür des kleinen Hauses heraus, das gelbe Farbe und dunkelrosa Verzierungen auf unschöne Weise miteinander verband. Er blieb einen Moment auf der Stufe stehen, Hand auf dem Türknauf, und sprach offenbar mit jemand im Inneren. Dann zog er die Tür zu und lief leichtfüßig den Fußweg entlang. Er kam gerade rechtzeitig, daß er seinem Kollegen helfen konnte, den Wagen, auf dem noch die festgeschnallte Flasche lag, ins Heck des Kleinbusses zu heben.

»Sauerstoff?« fragte Ralph.

McGovern nickte.

»Für Mrs. Locher?«

McGovern nickte wieder und sah zu, wie die Arbeiter von Medical Services die Tür des Kleinbusses zuschlugen und dann davor stehenblieben und sich im Dämmerlicht leise unterhielten. »Ich war in der Grundschule und der Junior High mit May Locher zusammen. Drüben in Cardville, Heimat der Tapferen und Land der Kühe. Nur fünf von uns waren in der Abschlußklasse. Damals, in den alten Zeiten, galt sie als ein toller Käfer, und Burschen wie mich nannte man >einen fröhlichen Stutzer.< In dieser heiteren alten Zeit gebrauchte man den Ausdruck >gay< für den Weihnachtsbaum, wenn er geschmückt war, und nicht für Schwule.«

Ralph betrachtete nervös und befangen seine Hände. Er wußte selbstverständlich, daß McGovern homosexuell war, das wußte er schon seit Jahren, aber bis zum heutigen Abend hatte er es nie laut ausgesprochen. Er wünschte sich, Bill hätte es sich für einen anderen Tag aufgehoben... vorzugsweise einen, an dem Ralph selbst sich nicht fühlte, als wäre der größte Teil seines Gehirns durch Watte ersetzt worden.

»Das war vor schätzungsweise tausend Jahren«, sagte McGovern. »Wer hätte gedacht, daß wir einmal beide ans Ufer der Harris Avenue gespült werden würden.«

»Sie hat ein Emphysem, ist es nicht so? Habe ich jedenfalls gehört.«

»Jawohl. Eine dieser Krankheiten, von denen man immer etwas hat. Alt zu werden ist sicher nichts für Memmen, oder?«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Ralph, und dann erkannte sein Verstand die Wahrheit mit plötzlicher Wucht. Er dachte an Carolyn, an die Angst, die er verspürt hatte, als er in seinen durchnäßten Converse-Turnschuhen ins Apartment geputscht kam und sie halb in und halb außerhalb der Küche liegen sah... genau an der Stelle, wo er den größten Teil seines Gesprächs mit Helen gestanden hatte. Ed Deepneau gegenüberzutreten war nichts verglichen mit der Angst, die er in dem Augenblick verspürte, als er glaubte, Carolyn wäre tot.

»Ich kann mich erinnern, als sie May alle zwei Wochen oder so Sauerstoff brachten«, sagte McGovern. »Jetzt kommen sie jeden Dienstag- und Donnerstagabend, wie ein Uhrwerk. Ich gehe sie besuchen wenn ich kann. Manchmal lese ich ihr vor -die langweiligste Frauenzeitschriftenscheiße, die du dir vorstellen kannst -, und manchmal sitzen wir nur da und reden. Sie sagt, es fühle sich an, als würden sich ihre Lungen mit Seetang füllen. Es wird nicht mehr lange dauern. Eines Tages werden sie kommen, und statt einer leeren Sauerstoffflasche werden sie May auf ihren Wagen laden. Sie werden sie ins Derry Home bringen, und das ist das Ende.«