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»Ich werde mich von ihm scheiden lassen«, schrieb sie. »Ein Teil in mir (er hört sich an wie meine Mutter, wenn er spricht) heult lauthals auf, wenn ich es so unverblümt ausdrücke, aber ich habe es satt, mir wegen meiner Situation etwas vorzumachen. Hier finden jede Menge Therapien statt, bei denen Leute im Kreis sitzen und binnen einer Stunde vier Packungen Kleenex verbrauchen, aber alles scheint darauf hinauszulaufen, daß man seine Lage besser erkennt. In meinem Falle sieht es schlicht und einfach so aus, daß aus dem Mann, den ich geheiratet habe, ein gefährlicher Paranoiker geworden ist. Daß er manchmal liebevoll und zärtlich sein kann, ist nicht das Wesentliche, sondern lenkt nur davon ab. Ich darf nicht vergessen, daß der Mann, der mir selbstgepflückte Blumen brachte, heute manchmal auf der Veranda sitzt und mit jemandem redet, der gar nicht da ist, einem Mann, den er > den kleinen kahlköpfigen Arzt< nennt. Ist das nicht allerliebst? Ich glaube, ich weiß, wie das alles angefangen hat, und wenn ich Dich sehe, werde ich es Dir erzählen, wenn Du es wirklich hören willst.

Mitte September dürfte ich (zumindest eine Weile) wieder in dem Haus in der Harris Avenue sein, und sei es nur, um einen Job zu suchen... aber davon nichts mehr, das ganze Thema versetzt mich in Todesangst! Ich habe eine Nachricht von Ed bekommen - nur ein Absatz, aber trotzdem eine Erleichterung -, in der er mir mitteilt, daß er in einer der Hütten auf dem Gelände der Hawking Labors in Fresh Harbor wohnt und das Besuchsverbot der Bewährungsvorschriften einhalten würde. Er schreibt, daß ihm alles leid täte, aber daß er das wirklich ernst meint, konnte ich nicht feststellen. Nicht, daß ich Tränenflecken auf dem Brief oder ein Päckchen mit seinem Ohr darin erwartet hätte, aber... ich weiß auch nicht. Es war, als wollte er sich überhaupt nicht wirklich entschuldigen, sondern es nur fürs Protokoll erwähnen. Ergibt das einen Sinn? Außerdem hat er einen Scheck über 750 Dollar beigelegt, was darauf hinzudeuten scheint, daß er sich seiner Verpflichtungen bewußt ist. Das ist gut, aber ich glaube, ich wäre glücklicher gewesen, wenn er sich wegen seiner seelischen Probleme ärztliche Hilfe gesucht hätte. Das müßte seine Strafe sein, weißt Du: achtzehn Monate intensive Therapie. Das habe ich in der Gruppe gesagt, und einige haben gelacht, als wäre es ein Witz. Es war aber keiner.

Wenn ich an die Zukunft denke, sehe ich manchmal nur furchterregende Bilder vor mir. Ich stelle mir vor, wie wir im Manna in der Schlange stehen, um eine kostenlose Mahlzeit zu bekommen, oder wie ich mit der in eine Decke gewickelten Nat unter dem Arm das Obdachlosenasyl in der Third Street betrete. Wenn ich an so etwas denke, fange ich an zu zittern, und manchmal weine ich. Ich weiß, das ist dumm; ich habe einen Abschluß in Bibliothekswissenschaft, Herrgott noch mal, aber ich kann nichts dafür. Und weißt Du, was mir wieder Halt gibt, wenn diese schrecklichen Bilder kommen? Was Du zu mir gesagt hast, als Du mich im Red Apple hinter den Tresen geführt und auf den Sessel gesetzt hattest. Du hast mir gesagt, daß ich eine Menge Freunde in der Nachbarschaft hätte, und daß ich es überstehen würde. Ich weiß, daß ich mindestens einen Freund habe. Einen wahren Freund.«

Unterschrieben war der Brief mit: Alles Liebe, Helen.

Ralph wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln - in letzter Zeit schien es, als würde er wegen verschütteter Milch weinen, wahrscheinlich lag das daran, daß er so gottverdammt müde war - und las das P.S., das sie an den unteren und rechten Rand des Briefs gequetscht hatte: »Ich würde mich freuen, wenn Du mich hier besuchen könntest, aber aus Gründen, die Du sicher einsiehst, haben Männer hier keinen Zutritt. Sie möchten nicht einmal, daß wir die genaue Lage verraten! H.«

Ralph blieb eine oder zwei Minuten mit Helens Brief auf dem Schoß sitzen und sah über die Harris Avenue hinaus. Inzwischen schrieb man Ende August, noch Sommer, aber die Blätter der Pappeln schimmerten silbern, wenn der Wind darüberstrich, und der erste kühle Hauch lag in der Luft. Ein Schild im Schaufenster des Red Apple verkündete: SCHULBEDARF JEDER ART! FRAGEN SIE ZUERST HIER! Und irgendwo an der Stadtgrenze von Newport wusch Helen Deepneau in einem großen alten Farmhaus, wo mißhandelte Ehefrauen Zuflucht suchten und versuchten, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, die Sturmläden und machte sie für einen weiteren langen Winter bereit.

Er schob den Brief behutsam wieder in den Umschlag und versuchte sich zu erinnern, wie lange Ed und Helen verheiratet gewesen waren. Sieben oder acht Jahre, dachte er. Carolyn hätte es genau gewußt. Wieviel Mut ist erforderlich, einen Traktor zu nehmen und Frucht umzupflügen, die man sieben oder acht Jahre gehegt hat? fragte er sich. Wieviel Mut, das zu tun, wenn man die ganze Zeit damit verbracht hat herauszufinden, wie man den Boden vorbereitet, wann man pflanzt, wieviel Wasser erforderlich ist und wann man erntet? Wieviel Mut kostete es, einfach zu sagen: »Ich muß diese Erbsen aufgeben, Erbsen sind nichts für mich. Ich versuche es lieber mit Mais oder Bohnen.«

»Eine Menge«, sagte er und wischte sich wieder die Augen.

»Verdammt viel, das ist meine Meinung.«

Plötzlich wollte er Helen unbedingt wiedersehen, wollte wiederholen, woran sie sich so gut erinnerte und woran er selbst sich kaum erinnern konnte: Du wirst das prima überstehen, du hast eine Menge Freunde in der Nachbarschaft.

»Bring das auf die Bank«, sagte Ralph. Daß er von Helen gehört hatte, schien ihm eine große Last von der Seele genommen zu haben. Er stand auf, steckte den Brief in die Gesäßtasche und ging die Harris Avenue entlang zum Picknickplatz an der Extension. Wenn er Glück hatte, fand er Faye Chapin oder Don Veazie und konnte eine Partie Schach spielen.

Seine Erleichterung darüber, von Helen zu hören, konnte Ralphs Schlaflosigkeit nicht lindern; er wachte auch weiterhin vorzeitig auf, und am Labor Day schlug er die Augen gegen 2:45 Uhr auf. Am zehnten September - dem Tag, an dem Ed Deepneau wieder verhaftet wurde, diesmal zusammen mit fünfzehn anderen - schlief Ralph noch rund drei Stunden pro Nacht, und er fühlte sich fast wie etwas auf einem Objektträger unter dem Mikroskop. Nur ein einsamer Einzeller, das bin ich, dachte er, als er in seinem Sessel saß und auf die Harris Avenue hinaussah, und er wünschte sich, er hätte lachen können.

Seine Liste todsicherer, zuverlässiger Hausmittel wuchs, und er hatte sich schon mehr als einmal überlegt, daß er ein heiteres kleines Buch zum Thema hätte schreiben können... das hieß, sollte er jemals wieder genug Schlaf bekommen, daß ihm zusammenhängendes Denken möglich wäre. Diesen Spätsommer war er schon froh, wenn es ihm gelang, jeden Tag ein Paar zusammenpassende Socken anzuziehen, und sein Denken kehrte immer wieder zu der höllischen Anstrengung zurück, an dem Tag, als Helen verprügelt worden war, eine Packung Cup-A-Soup im Küchenschrank zu finden. Soweit war es seither nicht wieder gekommen, weil es ihm gelungen war, jede Nacht zumindest etwas Schlaf zu bekommen, aber Ralph hatte schreckliche Angst, es würde bald wieder soweit sein -wenn nicht noch schlimmer -, sollte sein Zustand nicht besser werden. Es gab Zeiten (für gewöhnlich wenn er um halb fünf Uhr morgens im Sessel saß), da hätte er schwören können, daß er spüren konnte, wie sein Gehirn langsam austrocknete.

Das Spektrum der Hausmittel reichte vom Erhabenen bis zum Lächerlichen. Zu ersterem gehörte eine vierfarbige Broschüre, die die Wunder des Minnesota Institute for Sleep Studies in St. Paul anpries. Ein hinreichend gutes Beispiel für letzteres war das »Magische Auge«, ein Allzweckamulett, das über Anzeigen in Boulevardblättern wie dem National Enquirer und Inside View vertrieben wurde. Sue, die Kassiererin im Red Apple, kaufte eines und überreichte es ihm eines Nachmittags. Ralph betrachtete das schlecht gezeichnete blaue Auge, das von dem Medaillon (das sein Leben wahrscheinlich einmal als Pokerchip begonnen hatte) zu ihm aufsah und spürte, wie unbändiges Lachen in ihm emporwallte. Irgendwie gelang es ihm, dieses Gelächter zu unterdrücken, bis er wohlbehalten auf der anderen Straßenseite in seinem Apartment im ersten Stock eingetroffen war, und dafür war er mehr als dankbar. Der Ernst, mit dem Sue es ihm überreicht hatte - und die teuer aussehende Goldkette, die sie durch die Öse gezogen hatte -, deuteten darauf hin, daß sie eine Stange Geld dafür hingelegt haben mußte. Seit dem Tag, als sie beide Helen gerettet hatten, betrachtete sie Ralph fast ehrfürchtig. Das machte Ralph verlegen, aber er wußte nicht, was er dagegen tun sollte. Vorläufig entschied er, konnte es nicht schaden, das Medaillon zu tragen, damit sie seinen Umriß unter seinem Hemd erkennen konnte. Beim Einschlafen half es ihm allerdings nicht.