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Es gab sogar eine Art Verhaltensmaßregel für so eine Situation: Wie Sie sich bei Zusammenstößen mit geringer Geschwindigkeit verhalten sollten. Selbstverständlich gab es das, überlegte Ralph. Wahrscheinlich fanden jeden Tag ein Dutzend Zusammenstöße in Derry statt, im Winter wahrscheinlich doppelt soviel, wenn es schneite und die Straßen glatt wurden. Man stieg aus, man traf sein Gegenüber an der Stelle, wo die beiden Fahrzeuge zusammengeprallt waren (und wo sie in den meisten Fällen noch ineinander verhakt waren), man sah sich den Schaden an, man schüttelte die Köpfe. Manchmal - sogar ziemlich häufig - wurde diese Phase der Begegnung von wütenden Worten begleitet: Schuldzuweisungen wurden ausgesprochen (häufig grob), Fahrkünste in Zweifel gezogen, rechtliche Schritte angedroht. Ralph vermutete, was die Fahrer wirklich sagen wollten, ohne es unumwunden auszusprechen, war: Hör zu, du Idiot, du hast mir einen verdammten Schrecken eingejagt!

Der letzte Schritt dieses unglücklichen kleinen Tanzes war der Austausch von Versicherungskarten, und an diesem Punkt bekamen die Fahrer normalerweise ihre mit ihnen durchgehenden Gefühle wieder unter Kontrolle... immer vorausgesetzt, daß niemand verletzt worden war, was hier der Fall zu sein schien. Manchmal schüttelten die betroffenen Fahrer sich zum Abschied sogar die Hände.

Ralph bereitete sich darauf vor, das alles von seinem Beobachtungsposten keine hundertfünfzig Meter entfernt mit anzusehen, aber sobald die Fahrertür des Datsun aufging, wurde ihm klar, daß es hier anders laufen würde - daß der Unfall womöglich noch nicht vorbei war, sondern immer noch andauerte. Auf jeden Fall sah es nicht so aus, als würde sich jemand am Ende dieser Festivitäten die Hände schütteln.

Die Tür schwang nicht auf, sie flog auf. Ed Deepneau sprang heraus und blieb dann einfach stocksteif neben seinem Auto stehen, wo er die schmalen Schultern vor dem Hintergrund der dunklen Wolken krümmte. Er trug verblichene Jeans und ein T-Shirt, und Ralph überlegte sich, daß er Ed bis zum heutigen Tag nie in einem Hemd gesehen hatte, das man nicht vorne knöpfen konnte. Und er trug etwas um den Hals: ein langes, weißes Etwas. Einen Schal? Es sah wie ein Schal aus, aber warum sollte jemand an einem so heißen Tag einen Schal tragen?

Ed stand einen Moment neben seinem verwundeten Auto und schien in jede Richtung zu sehen, nur nicht in die richtige. Die störrischen kleinen Locken seines schmalen Kopfs erinnerten Ralph daran, wie Hähne ihre Höfe absuchten und nach Eindringlingen und Störenfrieden Ausschau hielten. Etwas an dieser Ähnlichkeit erfüllte Ralph mit Unbehagen. Er hatte Ed noch nie so gesehen, und er schätzte, das Unbehagen hing damit zusammen, aber nicht nur. Die Wahrheit war schlicht und einfach: Er hatte überhaupt noch nie jemand, der so aussah, gesehen.

Der Donner grollte jetzt lauter im Westen. Und näher.

Aus dem Mann, der aus dem Ranger ausstieg, hätte man zwei Ed Deepneaus machen können, möglicherweise drei. Sein gewaltiger, feister Bauch hing über den umgerollten Saum der grünen Kordsamthose; und er hatte Schwitzflecken so groß wie Eßteller unter den Achseln seines weißen Hemds mit dem offenen Kragen. Er klappte den Schirm der West Side Gardeners Mütze zurück, damit er sich den Mann genauer ansehen konnte, der ihn volle Breitseite erwischt hatte. Sein kantiges Gesicht war totenbleich, abgesehen von glänzenden farbigen Flecken auf den Wangen, wie Rouge, und Ralph dachte: Das ist ein Spitzenkandidat für einen Herzanfall. Wenn ich näher dran wäre, könnte ich todsicher die Falten in seinen Ohrläppchen sehen.

»He!« schrie der vierschrötige Kerl Ed an. Die Stimme, die aus der breiten Brust und dem gewaltigen Oberkörper kam, klang grotesk dünn, fast piepsig. »Wo hast du denn'n Führerschein her? Vom Versandhaus?«

Eds kreisender, nickender Kopf zuckte sofort in die Richtung, aus der die Stimme ertönt war - schien fast darauf einzuschwenken wie ein vom Radar geleiteter Düsenjäger -, und nun konnte Ralph zum erstenmal richtig in Eds Augen sehen. Er spürte Schrecken in der Brust auflodern und rannte plötzlich zur Unfallstelle. Derweil ging Ed auf den Mann im schweißnassen weißen Hemd und der Mütze zu. Er ging mit steifen Beinen und gereckten Schultern, ganz anders als sein gewohntes, lässiges Schlurfen.

»Ed!« rief Ralph, aber die frische Brise - inzwischen kalt und regenschwanger - schien die Worte mit sich zu reißen, bevor sie richtig aus seinem Mund gekommen waren. Ed drehte sich auf jeden Fall nicht um. Ralph zwang sich, schneller zu laufen, und vergaß seine schmerzenden Beine und das Pochen unten im Rücken. Er hatte Mordlust in Eds aufgerissenen, starren Augen gesehen. Er besaß überhaupt keine einschlägigen Erfahrungen, mit denen er sein Urteil hätte begründen können, aber er glaubte nicht, daß man einen derart unverhohlenen Blick falsch interpretieren konnte; es war der Blick von Kampfhähnen, wenn sie sich mit aufgerichteten, messerscharfen Sporen aufeinander stürzten. »Ed! He, Ed, warte! Ich bin es, Ralph!«

Nicht einmal ein Blick zurück, obwohl Ralph jetzt so nahe war, daß Ed ihn gehört haben mußte, Wind hin oder her. Der vierschrötige Mann drehte sich auf jeden Fall um, und Ralph konnte Angst und Unsicherheit in seinen Augen sehen. Dann wandte sich der Vierschrötige wieder an Ed und hob beschwichtigend die Hände.

»Hören Sie«, sagte er. »Wir können miteinander reden... «

Weiter kam er nicht. Ed machte einen weiteren raschen Schritt vorwärts, hob eine schlanke Hand - in der sich zunehmend verdüsternden Atmosphäre wirkte sie übertrieben weiß - und schlug dem Vierschrötigen damit über den mehr als markanten Kiefer. Das Geräusch hörte sich wie das Luftdruckgewehr eines Kindes an.

»Wie viele hast du umgebracht?« fragte Ed.

Der Vierschrötige drückte den Rücken an die Seite des Pickup; sein Mund stand offen, seine Augen waren groß. Ed unterbrach seinen merkwürdig steifen Gang keinen Moment. Er lief zu dem anderen Mann, stand Bauch an Bauch mit ihm und schien überhaupt nicht zu bemerken, daß der Fahrer des Lasters zehn Zentimeter größer und hundert Pfund oder mehr schwerer war. Ed hob die Hand und schlug ihn wieder. »Komm schon! Spuck's aus, tapferer Junge - wie viele hast du umgebracht?« Seine Stimme schwoll zu einem Kreischen an, das im ersten ehrfurchtgebietenden Donnerschlag des Gewitters unterging.

Der Vierschrötige stieß ihn weg - eine Geste, die nicht Aggression, sondern einfach Angst ausdrückte -, und Ed taumelte rückwärts gegen die eingedrückte Schnauze seines Datsun. Er schnellte sofort wieder mit geballten Fäusten nach vorne und nahm offensichtlich all seine Kräfte zusammen, um sich auf den Vierschrötigen zu stürzen, der mittlerweile mit schiefsitzender Schildmütze und an den Seiten und am Rücken heraushängendem Hemd an seinen Laster gelehnt stand. Eine Erinnerung schoß Ralph durch den Kopf - ein Kurzfilm mit den drei Stooges, den er vor Jahren gesehen hatte; Larry, Curry und Moe spielten Anstreicher, ohne eine Ahnung zu haben -, und er verspürte eine plötzliche Aufwallung von Sympathie für den Vierschrötigen, der absurd und zu Tode geängstigt zugleich aussah.

Ed Deepneau sah alles andere als absurd aus. Mit den gefletschten Zähnen und dem starren Blick erinnerte Ed mehr denn je an einen Kampfhahn. »Ich weiß, was du getan hast«, flüsterte er dem Vierschrötigen zu. »Was hast du gedacht, ist das für eine Komödie? Hast du geglaubt, du und deine Schlächterfreunde würden für immer damit durchkom...«

In diesem Augenblick traf Ralph dort ein, schnaufend wie ein alter Karrengaul, und legte Ed einen Arm um die Schultern. Die Hitze unter dem dünnen T-Shirt war beängstigend; es war, als würde man den Arm um einen Heizofen legen, und als Ed sich umdrehte und ihn ansah, hatte Ralph den vorübergehenden (aber unvergeßlichen) Eindruck, daß er auch direkt in einen Heizofen blickte. Er hatte noch nie eine derart allumfassende, vernunftlose Wut in zwei Menschenaugen gesehen; hätte nie vermutet, daß so eine Wut existieren könnte.