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»Und?«

»Die Testergebnisse unterstützen diese Hypothese nicht. Menschen, die an konstanter Traumunterbrechung leiden, haben alle möglichen Probleme, einschließlich Verlust der kognitiven Fähigkeit und emotionaler Stabilität. Sie leiden sogar unter Wahrnehmungsstörungen wie Hyperrealität.«

Hinter Wyzer saß ein Mann am anderen Ende des Tresens und las eine Ausgabe der Derry News. Nur seine Hände und der Scheitel waren zu sehen. Am kleinen Finger der linken Hand trug er einen auffälligen Ring. Die Schlagzeile auf der ersten Seite lautete: ABTREIBUNGSBEFÜRWORTERIN SPRICHT NÄCHSTEN MONAT IN DERRY. Darunter, in etwas kleineren Buchstaben, die Unterzeile: Pro-Life Gruppen kündigen organisierten Protest an. In der Mitte der Seite prangte ein Farbfoto von Susan Day, das ihr weitaus gerechter wurde als die geschmacklosen Fotografien auf dem Plakat im Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes. Da hatte sie gewöhnlich ausgesehen, vielleicht sogar etwas bedrohlich; auf diesem Bild strahlte sie. Ihre Augen waren dunkel, intelligent, fesselnd. Hamilton Davenports Pessimismus war anscheinend fehl am Platze gewesen. Susan Day kam doch in die Stadt.

Dann sah Ralph etwas, bei dem er Harn Davenport und Susan Day vergaß.

Eine graublaue Aura erschien um die Hände und den gerade sichtbaren Scheitel des Mannes herum, der die Zeitung las. Um den Onyxring am kleinen Finger herum schien sie besonders hell zu sein. Sie verdeckte ihn nicht, sondern schien ihn zu klären und verwandelte den Stein in etwas, das wie ein Asteroid in einem wirklich realistischen Science-Fiction-Film aussah...

»Was haben Sie gesagt, Ralph?«

»Hmm?« Ralph wandte den Blick unter Anstrengung vom Ring des zeitunglesenden Mannes ab. »Ich weiß nicht... habe ich etwas gesagt? Ich glaube, ich habe Sie gefragt, was Hyperrealität ist.«

»Gesteigerte Sinneswahrnehmung«, antwortete Wyzer. »Als würde man einen LSD-Trip haben ohne Chemikalien einnehmen zu müssen.«

»Oh«, sagte Ralph und sah zu, wie die helle, graublaue Aura komplizierte Runenmuster auf dem Nagel des Fingers bildete, mit dem Wyzer Krümel aufsammelte. Zuerst sahen sie wie in Frost geschriebene Buchstaben aus... dann wie in Nebel geschriebene Sätze... dann wie seltsame, staunende Gesichter.

Er blinzelte, und sie waren fort.

»Ralph? Sind Sie noch da?«

»Klar, worauf Sie sich verlassen können. Aber was ich fragen wollte, Joe - wenn die Hausmittel nicht wirken und die Pillen in Gang 3 nicht helfen und die verschreibungspflichtigen Medikamente die Lage verschlimmern statt verbessern können, was bleibt dann noch? Nichts, richtig?«

»Essen Sie das noch?« fragte Wyzer und deutete auf Ralphs Teller. Kaltes graublaues Licht löste sich von seinem Finger wie in Trockeneisnebel geschriebene arabische Buchstaben.

»Nee. Ich bin satt. Bedienen Sie sich.«

Wyzer zog Ralphs Teller zu sich. »Geben Sie nicht so schnell auf«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie noch einmal mit mir in die Apotheke kommen, damit ich Ihnen ein paar Visitenkarten geben kann. Mein Rat als freundlicher Apotheker aus der Nachbarschaft ist, daß Sie es einmal mit diesen Leuten versuchen sollten.« »Was für Leuten?« Ralph beobachtete fasziniert, wie Wyzer den Mund aufmachte, um das letzte Stück Kuchen zu essen. Jeder seiner Zähne war von einem grellen grauen Leuchten umgeben. Die Plomben in seinen Backenzähnen glühten wie winzige Sonnen. Die Bruchstücke von Kruste und Apfelfüllung auf seiner Zunge waberten in (licht Ralph licht) hellem Glanz. Dann schloß Wyzer den Mund, um zu kauen, und das Leuchten war verschwunden.

»James Roy Hong und Anthony Forbes. Hong ist Akupunkteur mit einer Praxis in der Kansas Street. Forbes ist Hypnotiseur und arbeitet an der East Side - Hesser Street, glaube ich. Und bevor Sie Quacksalberei schreien -«

»Ich werde nicht Quacksalberei schreien«, sagte Ralph leise. Er hob die Hand und berührte das magische Auge, das er immer noch unter dem Hemd trug. »Glauben Sie mir, das werde ich nicht.«

»Okay, gut. Mein Rat ist, daß Sie es zuerst bei Hong versuchen. Die Nadeln sehen furchterregend aus, tun aber nur ein kleines bißchen weh, aber er hat da was am Laufen. Ich habe keine Ahnung, was es ist und wie, zum Teufel, es funktioniert, aber ich weiß, als ich vor zwei Jahren eine schlimme Zeit durchgemacht habe, hat er mir viel geholfen. Forbes ist auch gut - habe ich jedenfalls gehört -, aber meine Wahl wäre Hong. Er ist schrecklich beschäftigt, aber da könnte ich Ihnen vielleicht helfen. Was meinen Sie?«

Ralph sah ein hellgraues Leuchten, nicht dicker als ein Faden, aus Wyzers Augenwinkel quellen und wie eine übernatürliche Träne an seiner Wange hinunterlaufen. Das gab den Ausschlag. »Ich würde sagen, gehen wir.«

Wyzer klopfte ihm auf die Schulter. »Guter Mann! Bezahlen wir und sehen zu, daß wir verschwinden.« Er holte einen Vierteldollar heraus. »Kopf oder Zahl, wer die Rechnung übernimmt?«

Auf halbem Weg zur Drogerie zurück blieb Wyzer stehen und betrachtete ein Plakat, das ans Schaufenster eines leerstehenden Ladens zwischen Rite Aid und dem Imbiß geklebt worden war. Ralph warf nur einen Blick darauf. Er hatte es schon einmal gesehen, im Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes.

»Wegen Mordes gesucht«, staunte Wyzer. »Die Leute haben jeden gottverdammten Sinn für Perspektive verloren, finden Sie nicht auch?«

»Ja«, sagte Ralph. »Wenn wir Schwänze hätten, würden, glaube ich, die meisten von uns den ganzen Tag hinter ihnen herjagen und versuchen, sie abzubeißen.«

»Das Plakat ist schon schlimm genug«, sagte Wyzer indigniert, »aber sehen Sie sich das an!«

Er deutete auf etwas neben dem Plakat, das in den Staub auf dem leeren Schaufenster geschrieben worden war. Ralph beugte sich nach vorne und las die kurze Botschaft. TÖTET DIESE FOTZE, stand da. Unter diesen Worten war ein Pfeil, der auf das linke Foto von Susan Day zeigte.

»Mein Gott«, sagte Ralph leise.

»Ja«, stimmte Wyzer zu. Er holte ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, wischte die Botschaft weg und hinterließ an deren Stelle lediglich einen hellen silbernen Fächer, den Ralph, wie er wußte, als einziger sehen konnte.

3

Er folgte Wyzer in den hinteren Teil der Drogerie und blieb unter der Tür eines Büros stehen, das nicht viel größer als die Kabine einer öffentlichen Toilette war, während Wyzer sich auf das einzige Möbelstück setzte - einen hohen Stuhl, der in Ebenezer Scrooges Kontor gepaßt hätte - und in der Praxis des Akupunkteurs James Roy Hong anrief. Wyzer drückte den Lautsprecherknopf des Telefons, damit Ralph die Unterhaltung mithören konnte.

Hongs Vorzimmerdame (jemand namens Anne, die Wyzer auf einer freundschaftlicheren als nur beruflichen Basis zu kennen schien) sagte zuerst, daß Dr. Hong unmöglich vor Thanksgiving einen neuen Patienten empfangen konnte. Ralphs Schultern sackten herunter. Wyzer hob eine offene Handfläche in seine Richtung - Moment mal, Ralph -, dann überredete er Anne, Anfang Oktober einen Termin für Ralph zu finden oder freizumachen. Das war in einem Monat, aber immer noch besser als Thanksgiving.

»Danke, Annie«, sagte Wyzer. »Bleibt es beim Essen am Freitag abend?«

»Ja«, sagte sie. »Und jetzt schalt den verdammten Lautsprecher ab, Joe. Ich hab was, das nur für dich bestimmt ist.«

Wyzer gehorchte, lauschte und lachte, bis ihm Tränen in die Augen traten - für Ralph sahen sie wie strahlende flüssige Perlen aus. Dann schmatzte er zweimal ins Telefon und legte auf.

»Alles geregelt«, sagte er und gab Ralph die Visitenkarte von James Roy Hong, auf die er Tag und Uhrzeit des Termins geschrieben hatte. »Vierter Oktober, nicht toll, aber mehr konnte sie wirklich nicht tun. Annie ist ein guter Mensch.«

»Es genügt vollauf.«

»Hier ist die Karte von Anthony Forbes, falls Sie ihn in der Zwischenzeit anrufen wollen.«