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»Danke«, sagte Ralph und nahm die zweite Karte. »Ich stehe in Ihrer Schuld.«

»Sie schulden mir nur einen weiteren Besuch, damit ich erfahre, wie es gelaufen ist. Ich bin besorgt. Es gibt Ärzte, die verschreiben nichts gegen Schlaflosigkeit, wissen Sie. Sie sagen, daß noch nie jemand an Schlafmangel gestorben ist, aber ich sage Ihnen, das ist Quatsch.«

Ralph nahm an, daß ihn das eigentlich hätte in Angst versetzen sollen, aber er fühlte sich ziemlich gelassen, zumindest im Augenblick. Die Erscheinungen waren verschwunden - der hellgraue Glanz in Wyzers Augen, als er über das lachte, was Hongs Vorzimmerdame zu ihm gesagt hatte, war die letzte gewesen. Er wiegte sich in dem Glauben, daß sie nur ein geistiges Zwischenspiel gewesen waren, das durch die Kombination von extremer Müdigkeit und Wyzers Anmerkungen über Hyperrealität hervorgerufen wurde. Und er hatte noch einen guten Grund für seine Zuversicht - er hatte einen Termin bei einem Mann, der diesem Mann durch eine ähnlich schlimme Zeit geholfen hatte. Ralph dachte sich, er würde sich von Hong mit Nadeln pieksen lassen bis er wie ein Stachelschwein aussah, wenn er hinterher wieder schlafen konnte, bis die Sonne aufging.

Und da war noch etwas: Die graue Aura war eigentlich gar nicht beängstigend gewesen. Sie war irgendwie... interessant.

»Andauernd sterben Menschen an Schlafmangel«, sagte Wyzer gerade, »aber der Leichenbeschauer schreibt normalerweise Selbstmord in die Spalte Todesursache, und nicht Schlaflosigkeit. Schlaflosigkeit und Alkoholismus haben vieles gemeinsam, aber das Wichtigste ist: Beides sind Krankheiten des Herzens und des Verstandes, und wenn man ihnen ihren Lauf läßt, vernichten sie die Seele normalerweise lange vor dem Körper. Daher kommt es doch vor, daß Leute an Schlafmangel sterben. Dies ist eine gefährliche Zeit für Sie, und Sie müssen gut auf sich achtgeben. Wenn Sie sich echt beschissen fühlen, rufen Sie Litchfield an. Haben Sie verstanden? Sitzen Sie nicht auf dem hohen Roß.«

Ralph verzog das Gesicht. »Ich glaube, eher werde ich Sie anrufen.«

Wyzer nickte, als hätte er fest damit gerechnet. »Die Nummer unter der von Hong ist meine«, sagte er.

Überrascht betrachtete Ralph die Karte wieder. Es stand tatsächlich eine zweite Nummer da, daneben die Buchstaben J.W.

»Tag und Nacht«, sagte Wyzer. »Wirklich. Sie werden meine Frau nicht stören; wir sind seit 1983 geschieden.«

Ralph wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Nur einen erstickten, sinnlosen Laut. Er schluckte heftig und versuchte, den Kloß in der Kehle zu beseitigen.

Wyzer sah, daß er mit den Tränen rang, und klopfte ihm auf die Schulter. »Kein Flennen im Laden, Ralph - das verschreckt die zahlungskräftigen Kunden. Möchten Sie ein Kleenex?«

»Nein, mir geht es gut.« Seine Stimme klang ein wenig wäßrig, aber verständlich und beherrscht.

Wyzer betrachtete ihn mit einem kritischen Blick. »Noch nicht, aber bald.« Wyzers gewaltige Hand verschluckte die von Ralph noch einmal, und diesmal machte sich Ralph keine Sorgen. »Versuchen Sie sich erst einmal zu entspannen. Und vergessen Sie nicht, seien Sie dankbar für den Schlaf, den Sie bekommen.«

»Okay. Nochmals danke.«_

Wyzer nickte und ging wieder hinter seinen Tresen.

Ralph ging durch den Gang 3 zurück, bog an dem formidablen Kondomschaukasten links ab und ging durch eine Tür hinaus, über deren Griff mit Abziehbuchstaben die Worte. DANKE, DASS SIE BEI RITE AID EINGEKAUFT HABEN standen. Zuerst dachte er sich nichts dabei, daß er in der grellen Helligkeit die Augen zukneifen mußte - immerhin war es Mittag, und womöglich war es in der Drogerie dunkler gewesen, als er gemerkt hatte. Dann machte er die Augen wieder weit auf, und der Atem stockte ihm in der Kehle.

Ein Ausdruck des Erstaunens, als wäre er vom Donner gerührt, breitete sich in seinem Gesicht aus. Es war der Ausdruck eines Entdeckers, der sich durch ein letztes Dickicht von Büschen gekämpft hat und plötzlich eine sagenhafte versunkene Stadt vor sich sieht, oder eine atemberaubende geologische Formation eine Diamantklippe oder einen spiralförmigen Wasserfall.

Ralph drückte sich an einen blauen Briefkasten, der neben dem Eingang der Drogerie stand, atmete immer noch nicht, und sein Blick schweifte hektisch von einer Seite auf die andere, während das Gehirn dahinter versuchte, die wunderbaren und schrecklichen Eindrücke zu verstehen, die es empfing.

Die Auren waren wieder da, aber das war etwa so, als würde man sagen, daß Hawaii ein Ort ist, wo man keinen Mantel tragen muß. Diesmal war das Licht überall, grell und fließend, seltsam und wunderschön.

Ralph hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben ein Erlebnis gehabt, das mit diesem vergleichbar war. Im Sommer 1941, dem Jahr, als er achtzehn geworden war, war er per Daumen von Derry zur Farm seines Onkels in Poughkeepsie, New York, gereist, eine Strecke von rund vierhundert Meilen. Als am zweiten Tag seiner Reise ein Gewitter aufgekommen war, war er zum nächstbesten Unterschlupf gelaufen - einer verfallenen alten Scheune, die trunken am Ende einer langen Wiese schwankte. An diesem Tag war er mehr zu Fuß gegangen als gefahren, und er war fest in einer der längst verlassenen Pferdenischen der Scheune eingeschlafen, noch bevor das Donnergrollen droben am Himmel aufgehört hatte.

Am nächsten Tag war er am frühen Vormittag nach vierzehn Stunden Schlaf erwacht, hatte sich staunend umgesehen und im ersten Augenblick nicht gewußt, wo er sich befand. Er wußte nur, es war ein dunkler, süßlich riechender Ort, und in der Welt über ihm und ringsum waren funkelnde, leuchtende Nähte aufgeplatzt. Dann erinnerte er sich, wie er Zuflucht in der Scheune gesucht hatte, und dann merkte er, daß die seltsame Vision durch die Ritzen und Fugen in Wänden und Dach der Scheune, verbunden mit dem hellen Sommersonnenschein, verursacht worden war... nur das, sonst nichts. Trotzdem saß er weitere fünf Minuten stumm staunend da, ein Teenager mit großen Augen und Heu im Haar und von Spreu staubigen Armen; er saß da und sah zum flutenden Gold winziger Staubkörnchen hinauf, die träge in den schrägen Strahlen der Sonne tanzten. Er wußte noch, er hatte gedacht, daß es wie in einer Kirche war.

Dies war dasselbe Erlebnis in der zehnten Potenz. Und das Verflixte daran: Er konnte nicht genau beschreiben, was geschehen war, wie die Welt sich verändert hatte und so wunderschön werden konnte. Gegenstände und Menschen, besonders die Menschen, hatten Auren, ja, aber das war nur der Anfang dieses erstaunlichen Phänomens. Die Dinge waren noch niemals so gleißend gewesen, so durch und durch da. Die Autos, Telefonmasten, die Einkaufswagen vor dem Supermarkt, die Holzhäuser auf der anderen Straßenseite - das alles schien ihn anzuspringen wie 3 D-Bilder aus alten Filmen. Mit einem Mal war das schäbige kleine Einkaufszentrum in der Witcham Street zu einem Wunderland geworden, und obwohl Ralph es unmittelbar vor sich sah, war er nicht hundertprozentig sicher, was er sah, nur daß es bunt und atemberaubend und auf wundersame Weise fremdartig war.

Das einzige, das er isolieren konnte, waren die Auren der Leute, die in die Geschäfte gingen und herauskamen, die Tüten im Kofferraum verstauten oder in ihre Autos einstiegen und wegfuhren. Manche der Auren waren heller als andere, aber selbst die trübsten waren hundertmal heller als bei seinen ersten Blicken auf dieses Phänomen.

Aber es ist das, worüber Wyzer gesprochen hat, kein Zweifel. Es ist die Hyperrealität, und was du vor dir siehst, ist nichts weiter als die Halluzinationen von Leuten, die unter Einfluß von LSD stehen. Du siehst nur ein weiteres Symptom deiner Schlaflosigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Schau es dir an, Ralph, und staune soviel du willst - es ist wunderbar -, nur glaub nicht daran.

Aber er mußte sich nicht zum Staunen ermuntern - es gab überall etwas zu staunen. Ein Bäckerwagen fuhr aus einem Parkplatz vor dem Day Break, Sun Down, und eine strahlende kastanienfarbene Substanz - fast die Farbe von getrocknetem Blut - kam aus dem Auspuff. Es handelte sich weder um Rauch noch um Dampf, aber es besaß einige Charakteristiken von beidem. Die Helligkeit nahm in allmählich steigenden Wellenspitzen zu, wie die Kurven eines EEG-Ausdrucks. Ralph schaute zu Boden und sah die Reifenspuren des Lasters im selben Kastanienton auf den Asphalt geprägt. Der Lastwagen beschleunigte, als er den Parkplatz verlassen hatte, und dabei nahm das geisterhafte Diagramm aus dem Auspuff die helle Farbe von arteriellem Blut an.