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Allerorten war vergleichbar Seltsames zu sehen, Phänomene, die einander in schrägen Pfaden überschnitten, wobei Ralph wieder an das schräge Sonnenlicht denken mußte, das vor langer Zeit durch die Ritzen in Dach und Wänden der alten Scheune geschienen hatte. Aber das größte Wunder waren die Menschen, und um sie herum schienen die Auren am deutlichsten und schärfsten umrissen zu sein.

Ein Botenjunge kam aus dem Supermarkt; er schob einen Einkaufswagen voll Lebensmitteln vor sich her und war in den Nimbus eines so brillanten Weiß gehüllt, daß er wie ein wandelnder Scheinwerfer aussah. Im Vergleich dazu war die Aura der Frau neben ihm schäbig: die graugrüne Farbe von Käse, der zu schimmeln angefangen hat.

Ein junges Mädchen rief dem Botenjungen aus dem offenen Fenster eines Subaru etwas zu und winkte; ihre linke Hand hinterließ grelle Kondensstreifen, rosa wie Zuckerwatte, als sie sie in der Luft bewegte. Sie verblaßten, kaum daß sie erschienen waren. Der Junge grinste und winkte zurück; seine Hand hinterließ einen gelb-weißen Fächer hinter sich. Für Ralph sah er wie die Flosse eines tropischen Fischs aus. Auch der Fächer begann zu verblassen, aber langsamer.

Ralphs Angst vor dieser verwirrenden, funkelnden Vision war beträchtlich, aber zumindest im Augenblick nahm die Angst nach Staunen, Ehrfurcht und schlichter Fassungslosigkeit den vierten Platz ein. Aber das ist nicht real, ermahnte er sich. Vergiß das nicht, Ralph. Er versprach sich, daß er es versuchen würde, aber im Moment schien diese mahnende Stimme sehr weit entfernt zu sein.

Jetzt fiel ihm noch etwas auf: Eine Linie dieser lichten Helligkeit kam aus dem Kopf jedes Menschen, den er sehen konnte. Sie verlief nach oben wie eine Girlande aus Flaggen oder buntem Kreppapier, bis sie sich verjüngte und verschwand. Bei manchen Leuten verschwand sie anderthalb Meter über dem Kopf; bei anderen drei oder vier. In den meisten Fällen entsprach die Farbe der hellen, aufsteigenden Linie der restlichen Aura - zum Beispiel grellweiß bei dem Botenjungen, käsig grau-grün bei der Kundin neben ihm -, aber es gab einige auffällige Ausnahmen. Ralph sah eine rostrote Linie von einem Mann in mittleren Jahren aufsteigen, der inmitten einer dunkelblauen Aura dahinschritt, und eine Frau mit hellgrauer Aura, deren aufsteigende Linie eine erstaunliche (und etwas beunruhigende) Magentafärbung hatte. In einigen Fällen -zweien oder dreien, nicht besonders vielen - waren die aufsteigenden Linien fast schwarz. Diese gefielen Ralph nicht, und er stellte fest, daß die Leute, zu denen diese »Ballonschnüre« gehörten (so einfach und schnell gab er ihnen im Geiste einen Namen), alle unwohl aussahen.

Logisch. Diese Ballonschnüre sind Indikatoren für Gesundheit... oder Krankheit, in manchen Fällen. Wie die Kirilian-Auren, von denen die Leute Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre so sehr fasziniert waren.

Ralph, warnte ihn eine andere Stimme, du siehst das alles nicht, okay? Ich meine, ich wiederhole mich nur ungern, aber -aber wäre es nicht mindestens möglich, daß das Phänomen doch echt war? Daß seine hartnäckige Schlaflosigkeit in Verbindung mit dem stabilisierenden Einfluß seiner lichten, zusammenhängenden Träume ihm einen Blick in eine sagenhafte Dimension eröffnet hatte, die außerhalb der Reichweite gewöhnlicher Wahrnehmung lag?

Hör auf damit, Ralph, und zwar sofort. Du solltest dir etwas Besseres einfallen lassen, sonst sitzt du am Ende im selben Boot wie der arme alte Ed Deepneau.

Als er an Ed dachte, wurden einige Assoziationen wachgerufen

- etwas, das er an dem Tag gesagt hatte, als er wegen Mißhandlung seiner Frau verhaftet worden war -, aber bevor Ralph sie isolieren konnte, sprach eine Stimme fast direkt neben seinem linken Ellbogen.

»Mom? Mommy? Können wir wieder die Honey-Nut Cheerios kaufen?«

»Das werden wir sehen, wenn wir drinnen sind, Liebes.«

Eine junge Frau und ein kleiner Junge gingen Hand in Hand vor ihm vorbei. Der Junge, der vier oder fünf zu sein schien, hatte gesprochen. Seine Mutter schritt in einer fast grellweißen Umhüllung dahin. Die »Ballonschnur«, die von ihrem kastanienfarbenen Haar aufstieg, war ebenfalls weiß und sehr breit - mehr wie das Band um eine hübsche Geschenkbox als eine Schnur. Sie stieg bis zu einer Höhe von mindestens sechs Metern hoch und wehte beim Gehen leicht hinter ihr her. Ralph mußte an Brautschmuck denken - Schleppen, Schleier, weiße, bauschige Röcke.

Die Aura ihres Sohns war gesund und dunkelblau, fast violett, und als die beiden vorübergingen, sah Ralph etwas Faszinierendes. Fäden der Auras stiegen auch von ihren ineinander verschlungenen Händen auf: weiß von der Frau, dunkelblau von dem Jungen. Sie waren verflochten wie ein Zopf, stiegen empor, verjüngten sich und verschwanden.

Mutter und Sohn, Mutter und Sohn, dachte Ralph. Die beiden Bänder, die umeinander geflochten waren wie wilder Wein, der an einem Pflock im Garten hinaufwuchs, hatten etwas Perfektes, etwas schlicht Symbolisches. Als er sie sah, jubilierte sein Herz - kitschig, aber genau so empfand er. Mutter und Sohn, blau-und-weiß, Mutter und»Mom, warum schaut der Mann so?«

Die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar sah Ralph nur kurz an, aber ihm entging nicht, wie sie die Lippen zusammenkniff, bevor sie sich abwandte. Aber wichtiger war, daß er sah, wie die brillante Aura, die sie umgab, plötzlich dunkler wurde, sich zusammenzog und dunkelrote, spiralförmige Schattierungen bekam.

Das ist die Farbe der Angst, dachte Ralph. Oder vielleicht der Wut.

»Ich weiß nicht, Tim. Komm mit, hör auf herumzutrödeln.« Sie ging schneller, und ihr Pferdeschwanz wippte hin und her und hinterließ kleine graue, rotgemusterte Fächer in der Luft. Für Ralph sahen sie wie die Halbkreise aus, die Scheibenwischer manchmal auf schmutzigen Windschutzscheiben hinterließen.

»He, Mom, laß mich leben! Hör auf, so zu ziehen!« Der kleine Junge mußte laufen, damit er Schritt halten konnte.

Das ist meine Schuld, dachte Ralph und sah ein Bild vor sich, wie er für die junge Mutter ausgesehen haben mußte: alter Mann, müdes Gesicht, große, purpurne Tränensäcke unter den Augen. Er steht - lauert - am Briefkasten neben der Rite Aid Drogerie und starrt sie und ihren kleinen Jungen an, als wären sie das Bemerkenswerteste auf der Welt.

Was Sie auch ganz genau sind, Ma'am, wenn Sie es nur wüßten.

Für sie mußte er wie der größte Perversling aller Zeiten ausgesehen haben. Er mußte es wieder loswerden. Echt oder Halluzination spielte keine Rolle - er mußte dafür sorgen, daß es aufhörte. Wenn es ihm nicht gelang, würde jemand die Polizei oder die Männer mit den Schmetterlingsnetzen rufen. Möglicherweise würde die hübsche Mutter die Münzfernsprecher gleich neben der Haupttür des Markts zu ihrem ersten Ziel machen.

Er fragte sich gerade, wie man etwas zum Verschwinden bringen konnte, das sich nur im eigenen Kopf abspielte, als ihm klar wurde, daß es schon geschehen war. Ob übersinnliches Phänomen oder Halluzination, es war einfach verschwunden, während er darüber nachgedacht hatte, wie schrecklich er für die hübsche junge Mutter ausgesehen haben mußte. Der Tag war in sein normales Altweibersommerleuchten zurückgefallen, das wunderbar war, aber immer noch weit von diesem strahlenden, allumfassenden Glanz entfernt. Die Menschen, die über den Parkplatz der Einkaufspassage gingen, waren wieder nur Menschen: keine Auren, keine Ballonschnüre, kein Feuerwerk. Nur Menschen auf dem Weg, Lebensmittel im Shop 'n Save einzukaufen oder ihre letzten Urlaubsbilder bei PhotoMat abzuholen oder einen Kaffee zum Mitnehmen im Day Break, Sun Down zu bestellen. Manche gingen vielleicht sogar ins Rite Aid, um eine Packung Fromms zu kaufen oder, Gott beschütze uns und stehe uns bei, ein SCHLAFMITTEL.