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Nur gewöhnliche, alltägliche Mitbürger aus Derry, die ihren gewöhnlichen Alltagsverrichtungen nachgingen.

Ralph stieß den angehaltenen Atem mit einem Stoßseufzer aus und wappnete sich für eine Woge der Erleichterung. Die Erleichterung kam, aber nicht die Sturzflut, mit der er gerechnet hatte. Kein Gefühl, daß er gerade noch rechtzeitig vom Rand des Wahnsinns weggekommen war; kein Gefühl, daß er überhaupt am Rand eines Abgrunds gestanden hatte. Und doch wußte er genau, daß er nicht lange in einer so grellen und wunderbaren Welt leben konnte, ohne seine geistige Gesundheit in Gefahr zu bringen; es wäre, als hätte man einen Orgasmus, der vier Stunden dauert. So erlebten möglicherweise Genies und große Künstler die Welt, aber für ihn war das nichts; soviel Saft würde binnen kürzester Zeit seine Sicherungen durchbrennen, und wenn die Männer mit den Schmetterlingsnetzen kamen, ihm eine Spritze gaben und ihn mitnahmen, wäre er vielleicht froh darüber.

Sein am deutlichsten zu identifizierendes Gefühl war nicht Erleichterung, sondern eine Art angenehmer Melancholie, die er, wie er sich erinnerte, manchmal als sehr junger Mann nach dem Geschlechtsverkehr verspürt hatte. Die Melancholie war nicht tief, aber breit, sie schien die leeren Stellen seines Körpers und Geistes zu füllen, so wie eine zurückweichende Flut eine Schicht lockerer, fruchtbarer Erde zurückläßt. Er fragte sich, ob er jemals wieder einen so erschreckenden, erhabenen Augenblick der Epiphanie erleben würde. Er dachte, daß die Chancen ziemlich gut standen... zumindest bis nächsten Monat, bis James Roy Hong seine Nadeln in ihn steckte, oder bis Anthony Forbes seine goldene Taschenuhr vor seinen Augen schwenkte und ihm sagte, daß er sehr... sehr... müde werde. Möglicherweise würde es weder Hong noch Forbes gelingen, ihn von seiner Schlaflosigkeit zu heilen, aber falls doch, vermutete Ralph, würde er nach der ersten durchschlafenen Nacht aufhören, Auren und Ballonschnüre zu sehen. Und nach einem Monat oder so voll ruhiger Nächte, würde er wahrscheinlich vergessen, daß dies jemals geschehen war. Soweit es ihn betraf, war das ein ausreichend guter Grund, einen Anflug von Melancholie zu spüren.

Du solltest dich in Bewegung setzen, Kumpel - wenn dein neuer Freund zum Schaufenster der Drogerie heraussieht und du immer noch wie ein Trottel hier stehst, wird er wahrscheinlich selbst die Männer mit den Schmetterlingsnetzen rufen.

»Eher Dr. Litchfield anrufen«, murmelte Ralph und ging über den Parkplatz zur Harris Avenue.

5

Er steckte den Kopf zu Lois' Eingangstür hinein und rief: »Yo! Jemand zu Hause?«

»Komm rein, Ralph!« rief Lois zurück. »Wir sind im Wohnzimmer!«

Ralph hatte sich immer vorgestellt, daß eine Hobbithöhle wie Lois Chasses Haus aussehen müßte, das etwa einen halben Block bergab vom Red Apple lag - hübsch und vollgestellt, möglicherweise ein bißchen zu dunkel, aber makellos sauber. Und er vermutete, ein Hobbit wie Bilbo Beutlin, dessen Interesse an seinen Vorfahren nur noch von dem Interesse übertroffen wurde, was es zum Essen gab, wäre bezaubert gewesen von dem winzigen Wohnzimmer, wo von jeder Wand Verwandte heruntersahen. Den Ehrenplatz über dem Fernseher beanspruchte eine verblaßte Studiofotografie des Mannes, den Lois stets als »Mr. Chasse« bezeichnete.

McGovern saß vornübergebeugt auf der Couch und balancierte einen Teller Makkaroni mit Käse auf den knochigen Knien. Der Fernseher war eingeschaltet, eine Spielshow ging gerade in die Bonusrunde.

»Was meint sie damit, wir sind im Wohnzimmer?« fragte Ralph, aber bevor McGovern antworten konnte, kam Lois mit einem dampfenden Teller in der Hand herein.

»Hier«, sagte sie. »Setz dich und iß. Ich habe mit Simone geredet, und sie sagte, daß es wahrscheinlich gleich in den Mittagsnachrichten kommen muß.«

»Herrje, Lois, das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte er, als er den Teller nahm, aber sein Magen knurrte laut, als der Geruch von Zwiebeln und geschmolzenem Cheddar aufstieg. Er sah auf die Uhr an der Wand - die man gerade noch zwischen Fotos eines Mannes im Waschbärmantel und einer Frau, die aussah, als würde Ju-du-di-huu-du zu ihrem Vokabular gehören, erkennen konnte - und stellte erstaunt fest, daß es fünf Minuten vor zwölf war.

»Ich habe nichts weiter getan, als ein paar Reste in die Mikrowelle zu stellen«, sagte sie. »Eines Tages, Ralph, werde ich einmal für dich kochen. Und jetzt setz dich.«

»Aber nicht auf meinen Hut«, sagte McGovern, ohne einen Blick von der Bonusrunde zu nehmen. Er nahm den Fedora von der Couch, warf ihn neben sich auf den Boden und machte sich wieder über seine Portion der Mahlzeit her. »Schmeckt ausgezeichnet, Lois.«

»Danke.« Sie sah gerade lange genug zu, bis eine der Kandidatinnen eine Reise nach Barbados und ein neues Auto eingesackt hatte, dann eilte sie wieder in die Küche. Die kreischende Gewinnerin wurde ausgeblendet und von einem Mann im zerknitterten Pyjama ersetzt, der sich im Bett herumwarf und wälzte. Er richtete sich auf und sah zur Uhr auf dem Nachttisch. Die zeigte 3:18, eine Tageszeit, mit der Ralph inzwischen ziemlich vertraut geworden war.

»Können Sie nicht schlafen?« fragte ein Sprecher teilnahmsvoll. »Haben Sie es satt, Nacht für Nacht wachzuliegen?« Eine kleine leuchtende Tablette kam zum Fenster des Schlaflosen hereingeschwebt. Ralph fand, sie sah wie die kleinste fliegende Untertasse der Welt aus, und es überraschte ihn nicht im geringsten, daß sie blau war.

Ralph setzte sich neben McGovern. Beide Männer waren schlank (hager wäre bei Bill sicher der zutreffendere Ausdruck gewesen), beanspruchten aber dennoch fast den gesamten Platz auf der Couch.

Lois kam mit ihrem eigenen Teller herein und setzte sich auf den Schaukelstuhl am Fenster. Über die Musik vom Band und den Studioapplaus, der das Ende der Show verkündete, sagte eine Frauenstimme: »Hier ist Lisette Benson. Schlagzeile der Nachrichten am Mittag: Eine bekannte Frauenrechtlerin willigt ein, in Derry zu sprechen, was zu Protesten - und sechs Verhaftungen - in einer Klinik der Stadt führt. Außerdem haben wir Chris Altoberg mit dem Wetter und Bob McClanahan mit dem Neuesten vom Sport. Bleiben Sie dran.«

Ralph schaufelte sich Makkaroni mit Käse in den Mund, sah auf und stellte fest, daß Lois ihn beobachtete. »Gut?« fragte sie.

»Köstlich«, sagte er, und das stimmte, aber er dachte, im Augenblick hätte ihm eine große Portion kalte frankoamerikanische Spaghetti direkt aus der Dose genauso gut geschmeckt. Er war nicht nur hungrig, er war heißhungrig.

Offenbar verbrauchte man eine Menge Kalorien, wenn man Auren sah.

»Kurz gesagt ist folgendes passiert«, sagte McGovern, schluckte den letzten Happen seines Essens hinunter und stellte den Teller neben seinen Hut. »Etwa achtzehn Leute sind heute morgen um halb neun vor dem Haus von Woman-Care aufgetaucht, als gerade Arbeitsbeginn war. Lois' Freundin Simone sagt, sie bezeichnen sich selbst als >Friends of Life<, aber den Kern der Gruppe bilden die verschiedenen Irren und Wahnsinnigen, die früher unter dem Namen Daily Bread operierten. Sie hat gesagt, einer davon sei Charlie Pickering, den die Polizei offenbar Ende letzten Jahres gefaßt hat, als er gerade dabei war, einen Sprengsatz auf das Gebäude abzufeuern. Simones Nichte hat gesagt, die Polizei hätte nur vier Personen festgenommen. Offenbar hat sie sich ein wenig verschätzt.«

»War Ed wirklich dabei?« fragte Ralph.

»Ja«, sagte Lois, »und er wurde auch festgenommen. Aber zumindest wurde kein Tränengas eingesetzt. Das war ein Gerücht. Niemand wurde verletzt.«

»Diesmal«, sagte McGovern düster.

Das Symbol der Nachrichten am Mittag erschien auf Lois' hobbitgroßem Farbfernseher und löste sich zu Lisette Benson auf. »Guten Tag«, sagte sie. »Schlagzeile heute an diesem schönen Sommertag: Die prominente Schriftstellerin und umstrittene Frauenrechtlerin Susan Day hat eingewilligt, nächsten Monat im Bürgerhaus zu sprechen. Die Bekanntgabe dieser Absicht führte zu einer Demonstration vor Woman-Care, dem Frauenzentrum in Derry mit angeschlossener Abtreibungsklinik, die die öffentliche Meinung gespalten -«