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Ralphs erste Reaktion war zurückzuweichen, aber er unterdrückte sie und blieb felsenfest stehen. Er hatte den Eindruck, wenn er zurückweichen würde, würde sich Ed wie ein tollwütiger Hund auf ihn stürzen und beißen und kratzen. Das war selbstverständlich absurd; Ed war Chemiker, Ed war Mitglied des Book of the Month Club (von der Sorte, die stets die zwanzig Pfund schwere Geschichte des Krimkriegs kauften, die sie scheinbar immer als Alternative zum Hauptvorschlagsband anzubieten schienen), Ed war Helens Mann und Natalies Dad. Verdammt, Ed war sein Freund.

... aber dies hier war nicht Ed, und das wußte Ralph genau.

Statt zurückzuweichen, beugte sich Ralph nach vorne, packte Ed an den Schultern (so heiß unter dem T-Shirt, so unvorstellbar, pulsierend heiß) und drehte sein Gesicht so, daß es den Vierschrötigen vor Eds unheimlich starrem Blick verbarg.

»Ed, laß das!« sagte Ralph. Er sprach mit der lauten, aber gelassenen und festen Stimme, die seiner Ansicht nach für Leute mit hysterischen Anfällen geeignet war. »Alles in Ordnung! Hör auf!«

Einen Augenblick veränderten sich Eds starre Augen nicht, aber dann wanderte sein Blick über Ralphs Gesicht. Das war nicht viel, aber Ralph verspürte dennoch gelinde Erleichterung.

»Was ist denn mit dem los?« fragte der Vierschrötige hinter Ralph. »Ist er verrückt, was meinen Sie?«

»Mit ihm ist alles bestens, da bin ich ganz sicher«, sagte Ralph, obwohl er sich ganz und gar nicht sicher war. Er sagte es aus dem Mundwinkel heraus, wie ein Schauspieler in einem schlechten Gefängnisfilm, und ließ Ed dabei nicht aus den Augen. Er wagte nicht, ihn aus den Augen zu lassen - ihm schien, als wäre der Blickkontakt der einzige Einfluß, den er auf den Mann hatte, und selbst der war mehr als fragwürdig. »Nur durcheinander wegen dem Unfall. Er braucht ein paar Sekunden, bis er sich beruhigt hat... «

»Frag ihn, was er da unter der Plane hat!« schrie Ed plötzlich und deutete über Ralphs Schulter. Wie auf einen Fingerzeig hin, donnerte es wieder. Blitze zuckten, und einen Augenblick zeichneten sich die Narben von Eds Pubertätsakne als deutliches Relief ab wie eine seltsame organische Schatzkarte. »Hey, hey, Susan Day!« sang er mit einer seltsam kindlichen Stimme, bei der Ralph. Gänsehaut auf den Unterarmen bekam. »How many kids did you kill today?«

»Der ist nicht durcheinander«, sagte der Vierschrötige. »Er ist verrückt. Und wenn die Polizei hier ist, werde ich dafür sorgen, daß er eingesperrt wird.«

Ralph sah sich um, und sein Blick fiel auf die blaue Segeltuchplane, die über die Ladefläche des Pickup gespannt war. Sie war mit hellgelben Schnüren festgebunden. Runde Formen zeichneten sich darunter ab.

»Ralph?« fragte eine zaghafte Stimme.

Er sah nach links und erblickte Dorrance Marstellar - mit über Neunzig locker der älteste der Harris Avenue Altvorderen -, der unmittelbar hinter dem Laster des Vierschrötigen stand. Dorrance hielt ein Taschenbuch in seinen wächsernen, leberfleckigen Händen, und er walkte es nervös und verpaßte dem Buchrücken eine Spezialmassage. Ralph vermutete, daß es sich um einen Gedichtband handelte, denn etwas anderes hatte er den alten Dorrance nie lesen sehen. Vielleicht las er auch gar nicht; vielleicht hielt er die Bücher nur gerne in Händen und betrachtete die kunstvoll aneinandergereihten Worte.

»Ralph, was ist denn los? Was geht hier vor?«

Über ihnen zuckten Blitze, ein purpurweißes Fauchen von Elektrizität. Dorrance sah auf, als wüßte er nicht genau, wo er sich befand, wer er war oder wen er vor sich sah. Ralph stöhnte innerlich.

»Dorrance...«, begann er, aber dann duckte sich Ed unter ihm durch wie ein wildes Tier, das nur stillgehalten hat, um wieder zu Kräften zu kommen. Ralph taumelte, dann stieß er Ed gegen die eingedrückte Haube seines Datsun zurück. Er war zutiefst erschrocken und wußte nicht, was er als nächstes tun sollte oder wie er es tun sollte. Zuviel spielte sich auf einmal ab. Er konnte spüren, wie die Muskeln in Eds Armen unter seinem Griff vibrierten; es war fast, als hätte der Mann einen der Blitze verschluckt, die gerade über den Himmel zuckten.

»Ralph?« fragte Dorrance mit derselben ruhigen, aber besorgten Stimme. »Ich an deiner Stelle würde ihn nicht mehr anfassen. Ich kann deine Hände nicht sehen.«

Na großartig. Noch ein Irrer, um den er sich kümmern mußte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Ralph betrachtete seine Hände, dann den alten Mann. »Wovon redest du, Dorrance?«

»Deine Hände«, sagte Dorrance geduldig. »Ich kann deine Hände nicht... «

»Das hier ist nichts für dich, Dor - warum haust du nicht ab?«

Daraufhin wurde die Miene des alten Mannes etwas heller. »Ja!« sagte er im Tonfall von jemand, der gerade eine große Erleuchtung gehabt hat. »Genau das sollte ich tun!« Er entfernte sich, und als es das nächstemal donnerte, zuckte er zusammen und hielt sich das Buch über den Kopf. Ralph konnte die hellroten Buchstaben des Titels sehen: Buckdancer's Choice. »Das solltest du auch tun, Ralph. Du solltest dich nicht in langfristige Angelegenheiten einmischen. Dabei kann man immer auf die Schnauze fallen.«

»Was meinst du -«

Aber bevor Ralph zu Ende sprechen konnte, drehte ihm Dorrance den Rücken zu und schlurfte zum Picknickplatz zurück, während sein weißer Haarkranz - dünn wie das Haar auf dem Kopf eines neugeborenen Babys - von der Brise des aufziehenden Sturms zerzaust wurde.

Ein Problem gelöst, aber Ralphs Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Ed hatte sich vorübergehend von Dorrance ablenken lassen, aber jetzt sah er den Vierschrötigen wieder so mordlüstern an, daß kleine Dolche aus seinen Augen zu schießen schienen. »Fotzenlecker!« spie er aus. »Du hast deine Mutter gefickt und ihre Fotze geleckt!«

Der Vierschrötige zog die Stirn kraus. »Was!«

Ed sah wieder zu Ralph, den er jetzt zu erkennen schien. »Frag ihn, was unter der Plane ist!« schrie er. »Oder noch besser, laß es dir von dem mörderischen Schwanzlutscher zeigen!«

Ralph sah den vierschrötigen Mann an. »Was haben Sie denn unter der Plane?«

»Was interessiert Sie das?« fragte der Vierschrötige wahrscheinlich als Versuch, trotzig zu klingen. Er sah den Blick in Ed Deepneaus Augen und wich weitere zwei Schritte zur Seite aus.

»Mich nicht, ihn schon«, sagte Ralph und nickte mit dem Kinn in Eds Richtung. »Helfen Sie mir einfach, ihn zur Vernunft zu bringen, okay?«

»Sie kennen ihn?« »Mörder!« wiederholte Ed, und diesmal schnellte er so ruckartig unter Ralphs Händen durch, daß dieser einen Schritt zurückwich. Aber es tat sich was, oder nicht? Ralph fand, daß der furchteinflößende, leere Blick aus Eds Augen verschwand. Es schien ein bißchen mehr Ed in ihnen zu sein als vorher... vielleicht war das aber auch nur Wunschdenken. »Mörder, Babymörder!«

»Herrgott, was für ein Irrenzirkus«, sagte der Vierschrötige, aber er ging zum hinteren Ende des Lastwagens, zog eine der Schnüre heraus und klappte eine Ecke der Plane zurück. Darunter lagen vier Preßspanfässer mit der Aufschrift UNKRAUT WEG. »Organischer Dünger«, sagte der Vierschrötige und sah von Ed zu Ralph und wieder zu Ed. Er berührte den Schirm seiner West-Side-Gardeners-Mütze. »Ich habe den ganzen Tag an neuen Blumenbeeten vor der Derry Psych gearbeitet... wo Sie auch mal einen Urlaub vertragen könnten, mein Freund.«

»Dünger?« fragte Ed. Er schien zu sich selbst zu sprechen. Er griff sich mit der linken Hand langsam an die Schläfe und fing an zu reiben. »Dünger?« er hörte sich wie ein Mann an, der eine simple aber bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung in Frage stellt.