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Ralph bekam keine Nachricht mehr von Ed, aber am einundzwanzigsten September erhielt er eine Postkarte von Helen mit siebzehn jubilierenden Worten, die auf die Rückseite gekritzelt waren: »Hurra, ein Job! Öffentliche Bibliothek in Derry! Ich fange nächsten Monat an! Wir sehen uns bald -Helen.«

Ralph, der sich fröhlicher als in der Nacht von Helens Anruf fühlte, ging nach unten, um McGovern die Karte zu zeigen, aber die Tür der unteren Wohnung war verschlossen und verriegelt.

Dann Lois... aber Lois war auch nicht da, wahrscheinlich zum Kartenspielen oder in die Stadt gegangen, um Wolle für einen neuen Pullover zu kaufen.

Gelinde verdrossen dachte Ralph darüber nach, daß die Leute, mit denen man gute Nachrichten am meisten teilen wollte, nie da waren, wenn man förmlich davon platzte, und schlenderte in den Strawford Park. Und da fand er Bill McGovern, der auf der Bank beim Softballfeld saß und weinte.

Weinen war vielleicht übertrieben; Tränen vergießen hätte es besser getroffen. Ein Taschentuch lugte aus einer knotigen Faust von McGovern heraus, und er beobachtete eine Mutter und ihren kleinen Sohn, die einen Ball an der Linie des ersten Mals entlangrollten, wo das letzte große Softballereignis der Saison das Intramural City Tournament - gerade erst vor zwei Tagen zu Ende gegangen war.

Ab und zu hob er die Faust mit dem Taschentuch zum Gesicht und wischte sich die Augen ab. Ralph, der McGovern noch nie weinen gesehen hatte - nicht einmal bei Carolyns Beerdigung -, verweilte noch einen Moment beim Spielplatz und fragte sich, ob er zu McGovern oder einfach wieder nach Hause gehen sollte.

Schließlich nahm er allen Mut zusammen und ging zu der Parkbank. »Hallo, Bill«, sagte er.

McGovern sah mit roten, feuchten Augen und ein wenig verlegen auf. Er wischte sie wieder ab und versuchte zu lächeln. »Hi, Ralph. Du hast mich beim Flennen erwischt. Entschuldige.«

»Schon gut«, sagte Ralph und setzte sich. »Ich habe auch schon oft genug geweint. Was ist denn?«

McGovern zuckte die Achseln, dann tupfte er sich wieder die Augen ab. »Nichts weiter. Ich leide an den Folgen eines Paradoxons, das ist alles.«

»Und was wäre das für ein Paradoxon?«

»Etwas Gutes passiert mit einem meiner ältesten Freunde dem Mann, der mir meine erste Stelle als Lehrer gegeben hat. Er stirbt.«

Ralph zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.

»Er hat eine Lungenentzündung. Seine Tochter will ihn heute oder morgen ins Krankenhaus schaffen, dort werden sie ihn zumindest eine Weile an die eiserne Lunge anschließen, aber er wird mit ziemlicher Sicherheit sterben. Ich werde seinen Tod feiern, wenn es soweit ist, und ich glaube, das deprimiert mich am allermeisten.« McGovern machte eine Pause. »Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, oder?«

»Nee«, sagte Ralph. »Aber das macht nichts.«

McGovern sah ihm ins Gesicht, stutzte und schnaubte. Das Geräusch hörte sich schroff und tränenfeucht an, aber Ralph fand, daß es trotzdem als richtiges Lachen gelten konnte und riskierte ein zaghaftes Lächeln als Erwiderung.

»Hab ich was Komisches gesagt?«

»Nein«, sagte McGovern und klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Ich habe nur dein Gesicht betrachtet, so ernst und aufrichtig -du bist wirklich ein offenes Buch, Ralph -, und mußte daran denken, wie sehr ich dich mag. Manchmal wünschte ich, ich könnte du sein.«

»Ganz bestimmt nicht um drei Uhr morgens«, sagte Ralph leise.

McGovern seufzte und nickte. »Die Schlaflosigkeit.«

»Ganz recht. Die Schlaflosigkeit.«

»Tut mir leid, daß ich gelacht habe, aber -«

»Du mußt dich nicht entschuldigen, Bill.«

»- aber bitte glaube mir, wenn ich sage, daß es ein bewunderndes Lachen war.«

»Wer ist dein Freund, und warum ist es gut, daß er stirbt?« fragte Ralph. Er vermutete bereits, was die Wurzel von McGoverns Paradoxon war; ganz so blauäugig naiv, wie Bill manchmal zu glauben schien, war er nun doch nicht.

»Sein Name lautet Bob Polhurst, und seine Lungenentzündung ist eine gute Nachricht, weil er seit dem Sommer '88 an der Alzheimerschen Krankheit leidet.«

Daran hatte Ralph gedacht... aber AIDS war ihm auch kurz durch den Kopf gegangen. Er fragte sich, ob das McGovern schockieren würde, und er verspürte leichte Erheiterung bei dem Gedanken. Dann sah er den Mann an und schämte sich seiner Erheiterung. Er wußte, wenn es um Niedergeschlagenheit ging, war McGovern zumindest ein halber Profi, aber er glaubte nicht, daß die Trauer um seinen alten Freund deshalb weniger aufrichtig war.

»Bob war seit 1948, als er kaum älter als fünfundzwanzig gewesen sein konnte, bis 1981 oder 82 Dekan der historischen Fakultät der Derry High. Er war ein großartiger Lehrer, einer dieser immens klugen Köpfe, die man manchmal im Hinterland findet, wo sie ihr Licht unter den Scheffel stellen. Normalerweise werden sie Dekan ihrer Fakultät und lassen sich darüber hinaus ein halbes Dutzend fachfremde Aufgaben aufhalsen, weil sie einfach nicht nein sagen können. Bob konnte es sicher nicht.«

Die Mutter führte jetzt ihren kleinen Sohn an ihnen vorbei in Richtung der Snackbar, die saisonbedingt bald schließen würde. Das Gesicht des Kindes war außergewöhnlich durchscheinend, eine Schönheit, die durch die rosenfarbene Aura verstärkt wurde, die Ralph um den Kopf kreisen und in Form sanfter Wogen über das kleine, lebhafte Gesicht wabern sah.

»Können wir nach Hause gehen, Mom? Ich will jetzt mit meinem Play-Doh spielen. Ich möchte die Knetfamilie machen.«

»Gehen wir vorher etwas essen, großer Junge - okay? Mommy hat Hunger.«

»Okay.«

Eine hakenförmige Narbe verlief über den Nasenansatz des Jungen, und dort wurde das rosa Leuchten der Aura tief scharlachrot.

Ist mit acht Monaten aus der Krippe gefallen, dachte Ralph. Wollte nach den Schmetterlingen des Mobiles greifen, das seine Mutter an die Decke gehängt hatte. Sie ist zu Tode erschrocken, als sie hineingelaufen ist und das viele Blut gesehen hat; sie dachte, der arme Junge würde sterben. Patrick, das ist sein Name. Sie nennt ihn Pat. Er wurde nach seinem Großvater genannt und -

Er kniff einen Moment fest die Augen zu. Sein Magen flatterte leicht unmittelbar unter dem Adamsapfel, und plötzlich war er überzeugt, daß er sich übergeben müßte.

»Ralph?« fragte McGovern. »Alles in Ordnung?«

Er schlug die Augen auf. Keine Aura, weder rosa noch sonstwie; nur eine Mutter und deren Sohn, die in die Snackbar gingen, um etwas Kaltes zu trinken, und er konnte unmöglich wissen, auf gar keinen Fall, daß sie Pat nicht nach Hause bringen wollte, weil Pats Vater nach fast sechs trockenen Monaten wieder trank, und wenn er trank, wurde er bösartig -

Hör auf, um Gottes willen, hör auf.

»Mir geht es gut«, sagte er zu McGovern. »Hab etwas Staub ins Auge bekommen, das ist alles. Nur weiter. Erzähl mir von deinem Freund.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er war ein Genie, aber im Lauf der Jahre bin ich zur Überzeugung gelangt, daß Genie eine völlig überschätzte Eigenschaft ist. Ich glaube, dieses Land ist voll von Genies, von Typen, die so klug sind, daß das durchschnittliche MENSA-Mitglied mit Ausweis dagegen wie Ficko der Clown aussieht. Und ich glaube, die meisten davon sind Lehrer, die in der Anonymität von Kleinstädten leben, weil sie es so haben wollen. Bob Polhurst wollte es auf jeden Fall so.

Er hat die Leute in einer Weise durchschaut, die mir Angst machte... jedenfalls anfangs. Nach einer Weile stellte man fest, daß man keine Angst haben mußte, weil Bob gütig war, auch wenn er zunächst ein Gefühl von Furcht in einem erweckte. Manchmal fragte man sich, ob er einen mit gewöhnlichen Augen ansah, oder mit einer Art Röntgenapparat.«