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An der Snackbar bückte sich die Frau mit einem kleinen Pappbecher Limonade. Der Junge griff grinsend mit beiden Händen danach und nahm ihn. Er trank durstig. Dabei pulsierte rosa Leuchten ganz kurz wieder um ihn herum, und Ralph wußte, daß er recht gehabt hatte: Der Junge hieß Patrick, und seine Mutter wollte nicht mit ihm nach Hause gehen. Das konnte er unmöglich wissen, aber er wußte es trotzdem.

»Wenn man damals«, sagte McGovern, »mitten aus dem tiefsten Maine kam und nicht hundertprozentig heterosexuell war, versuchte man wie der Teufel, dafür zu gelten. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, es sei denn, man wäre nach Greenwich Village gezogen, hätte ein Barett getragen und die Samstagabende in den Jazzclubs verbracht, wo sie applaudierten, indem sie mit den Fingern schnippten. Damals war die Vorstellung von einem >coming out< aus dem Versteck lächerlich. Für die meisten von uns gab es nur das Versteck. Wenn man nicht wollte, daß ein paar abgefüllte Jungs aus einer Studentenverbindung in einer dunklen Gasse auf einem saßen und versuchten, einem das Gesicht vom Kopf zu ziehen, war die Welt dein Versteck.«

Pat trank den Pappbecher leer und warf ihn auf den Boden. Seine Mutter befahl ihm, ihn aufzuheben und in den Mülleimer zu werfen, eine Aufgabe, die er mit ausgelassener Fröhlichkeit erfüllte. Dann nahm sie seine Hand, und sie schlenderten langsam aus dem Park. Ralph sah ihnen mit einem Gefühl der Bestürzung nach; er hoffte, die Ängste und Sorgen der Frau würden sich als unzutreffend erweisen, fürchtete aber, daß es sich nicht so verhielt.

»Als ich mich um die Stelle an der historischen Fakultät der Derry High bewarb-das war 1951 -hatte ich gerade zwei Jahre im Hinterland unterrichtet, in Lubec, wo sie abends die Bürgersteige hochklappen, und ich dachte mir, wenn ich dort zurechtkam, ohne daß Fragen gestellt wurden, würde ich überall zurechtkommen. Aber Bob sah mich nur einmal mit seinem Röntgenblick an - verdammt, er sah in mein Innerstes -, und da wußte er es. Und er war auch nicht schüchtern. > Wenn ich mich entscheide, Ihnen diesen Job zu geben, und wenn Sie sich entscheiden, ihn anzunehmen, Mr. McGovern, darf ich dann davon ausgehen, daß es niemals auch nur den geringsten Ärger wegen ihrer sexuellen Präferenzen geben wird?<

Sexuelle Präferenzen, Ralph! Mann, oh Mann! Vor diesem Tag hätte ich mir nicht einmal träumen lassen, daß es so einen Ausdruck überhaupt gab, aber ihm kam er leichter als ein geschmiertes Kugellager über die Lippen. Ich wollte aufbrausen und ihm sagen, ich hätte nicht die geringste Ahnung, wovon er redete, aber ich sei trotzdem äußerst verärgert - aus allgemeinen Prinzipien, gewissermaßen -, aber dann sah ich ihm noch einmal ins Gesicht und wußte, ich konnte es mir sparen. Ich hatte vielleicht ein paar Leute in Lubec hinters Licht fuhren können, aber bei Bob Polhurst würde mir das nicht gelingen. Er war selbst noch keine dreißig und wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht mehr als ein dutzendmal südlich von Kittery gewesen, aber er wußte alles von mir, das zählte, und um es herauszufinden, hatte er nur ein zwanzigminütiges Gespräch gebraucht.

»Nein, Sir, nicht den geringstem, sagte ich so sanftmütig wie Marys kleines Lamm.«

McGovern tupfte sich wieder die Augen mit dem Taschentuch ab, aber diesmal fand Ralph, daß es hauptsächlich eine theatralische Geste war.

»In den dreiundzwanzig Jahren, bevor ich ans Derry Community College ging, hat Bob mir alles beigebracht, was ich über das Unterrichten und Schachspielen weiß. Er war ein brillanter Spieler... ich kann dir sagen, er hätte diesem Windbeutel Faye Chapin mit Sicherheit eine harte Nuß zu knacken gegeben. Ich habe ihn nur einmal geschlagen, aber da hatte die Alzheimersche Krankheit ihn schon in den Klauen. Danach habe ich nie wieder mit ihm gespielt.

Und da war noch viel mehr. Er hat nie einen Witz vergessen. Er vergaß nie die Geburts- oder Festtage der Menschen, die ihm nahestanden - er schickte keine Karten oder machte Geschenke, aber er gratulierte immer und wünschte alles Gute, und niemand zweifelte je daran, daß er es ehrlich meinte. Er veröffentlichte über siebzig Artikel zur Didaktik des Geschichtsunterrichts und über den Bürgerkrieg, der sein Spezialgebiet war. 1967und 1968 hat er ein Buch mit dem Titel Later That Summer geschrieben, über die Monate nach Gettysburg. Er hat mich das Manuskript vor zehn Jahren lesen lassen, und ich finde, es ist das beste Buch über den Bürgerkrieg, das ich jemals gelesen habe - das einzige, das auch nur in die Nähe kommt, ist ein Roman mit dem Titel The Killer Angels von Michael Shaara. Aber von einer Veröffentlichung wollte Bob nichts hören. Als ich ihn nach dem Grund fragte, antwortete er, daß ausgerechnet ich das doch verstehen müßte.«

McGovern verstummte kurz und sah durch den Park, der von grün-goldenem Licht und einem schwarzen Gitter von Schatten erfüllt war, die sich bei jedem Hauch des Windes bewegten.

»Er sagte, er hätte Angst davor, an die Öffentlichkeit zu gehen.«

»Okay«, sagte Ralph. »Ich verstehe.«

»Vielleicht vermittelt das den besten Eindruck von ihm: Er hat das große Sonntagskreuzworträtsel der New York Times mit Tinte ausgefüllt. Ich habe ihn einmal deswegen aufgezogen habe ihm Hybris vorgeworfen. Er grinste und sagte zu mir: >Es ist ein großer Unterschied zwischen Stolz und Optimismus, Bill -ich bin Optimist, das ist alles.<

Wie dem auch sei, du wirst verstehen, was ich meine. Ein gütiger Mann, ein guter Lehrer, ein brillanter Denker. Sein Fachgebiet war der Bürgerkrieg, und heute weiß er nicht einmal mehr, was ein Bürgerkrieg ist, geschweige denn, wer unseren gewonnen hat. Verdammt, er weiß nicht einmal seinen eigenen Namen, und irgendwann einmal - je früher, desto besser - wird er sterben ohne zu wissen, daß er je gelebt hat.«

Ein Mann mittleren Alters in einem T-Shirt der University of Maine und ein paar zerrissenen Bluejeans, der eine zerknitterte Papiertüte unter einem Arm trug, kam über den Spielplatz geschlurft. Er blieb neben der Snackbar stehen, um den Inhalt einer Abfalltonne in der Hoffnung zu untersuchen, er könnte vielleicht eine oder zwei Pfanddosen finden. Als er sich bückte, sah Ralph die dunkelgrüne Hülle, die ihn umgab, und die hellgrüne Ballonschnur, die flatternd über seinem Kopf aufstieg. Und plötzlich war er zu müde, um die Augen zu schließen und es wegzuwünschen.

Er drehte sich zu McGovern um und sagte: »Seit letzten Monat sehe ich Dinge, die -«

»Ich glaube, ich bin in Trauer«, sagte McGovern und wischte sich noch einmal theatralisch über die Augen, »aber ich weiß nicht, ob wegen Bob oder meinetwegen. Ist das nicht ein Heuler? Aber wenn du hättest sehen können, wie scharfsinnig er damals war, wie gottverdammt erschreckend scharfsinnig... «

»Bill? Siehst du den Mann da drüben bei der Snackbar? Der sich durch den Abfall wühlt. Ich sehe -«

»Ja, diese Typen sieht man heute überall«, sagte McGovern und warf dem Penner (der zwei leere Budweiser-Dosen gefunden und in seiner Tüte verstaut hatte) einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich wieder zu Ralph umdrehte. »Ich hasse es, alt zu sein - ich schätze, darauf läuft es letztendlich wirklich hinaus. Ich meine, im großen Stil.«

Der Penner näherte sich ihrer Bank, mit leicht gebeugten Knien schlurfend, und der Wind kündigte sein Kommen mit einem Duft an, der alles andere als English Leather war. Seine Aura - ein leuchtendes, lebhaftes Grün, bei dem Ralph an Girlanden für den St.-Patricks-Tag denken mußte - vertrug sich schwerlich mit der unterwürfigen Haltung und dem schiefen Grinsen.

»Hallo, Jungs! Wie geht's uns denn?«

»Ging schon besser«, sagte McGovern und zog seine sardonische Braue hoch, »und ich nehme an, es wird uns auch wieder besser gehen, wenn du dich verzogen hast.«

Der Penner sah McGovern unsicher an, schien zu dem Ergebnis zu kommen, daß hier nichts zu holen war, und wandte sich an Ralph. »Habn Sie'n bißchen Kleingeld, Mister? Muß nach Dexter. Mein Onkel hat mich da im Asyl in der Neibolt Street angerufen und gesagt, ich kann mein' alten Job in der Fabrik wieder ham, aber nur wenn ich... «