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»Verzieh dich, Kumpel«, sagte McGovern.

Der Penner warf ihm einen kurzen, ängstlichen Blick zu, dann richtete er seine blutunterlaufenen Augen wieder auf Ralph. »Iss'n guter Job, wissense? Ich könnte ihn wiederham, aber nur, wenn ich heute noch hinkomm. Da iss'n Bus...«

Ralph griff in die Tasche, fand einen Vierteldollar und zehn Cent und ließ sie in die ausgestreckte Hand fallen. Der Penner grinste. Die Aura um ihn herum wurde heller und verschwand plötzlich. Für Ralph war es eine große Erleichterung.

»He, Klasse! Danke, Mister!«

»Nichts zu danken«, sagte Ralph.

Der Penner schlurfte in Richtung des Shop 'n Save, wo Marken wie Night Train, Old Duke und Silver Satin immer im Sonderangebot waren.

O Scheiße, Ralph, würde es schaden, wenn du auch im Kopf ein wenig wohltätig wärst? fragte er sich selbst. Noch eine halbe Meile in diese Richtung, und man kommt zur Bushaltestelle.

Das stimmte zwar, aber Ralph hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß ein himmelweiter Unterschied zwischen wohltätigem Denken und Illusionen herrschte. Wenn der Penner mit der dunkelgrünen Aura tatsächlich zur Bushaltestelle schlurfte, dann würde Ralph als Staatssekretär nach Washington gehen.

»Das solltest du nicht tun«, sagte McGovern vorwurfsvoll. »Es ermutigt sie nur.«

»Kann sein«, sagte Ralph resigniert.

»Was hast du gesagt, als wir so unhöflich unterbrochen wurden?«

Jetzt schien es eine unglaublich schlechte Idee zu sein, McGovern von den Auren zu erzählen, und er konnte sich um nichts auf der Welt mehr vorstellen, wieso er überhaupt daran gedacht hatte. Die Schlaflosigkeit - das war selbstverständlich die Antwort. Sie hatte neben seinem Kurzzeitgedächtnis und seiner Sinneswahrnehmung auch seinen gesunden Menschenverstand beeinträchtigt.

»Daß ich heute morgen etwas mit der Post bekommen habe«, sagte Ralph. »Ich dachte mir, daß dich das vielleicht ein wenig aufmuntert.« Er gab Helens Postkarte an McGovern, der sie las und dann noch einmal las. Beim zweitenmal erstrahlte sein langes Pferdegesicht zu einem breiten Grinsen. Als Ralph die Mischung aus Erleichterung und aufrichtiger Freude in diesem Ausdruck sah, verzieh er McGovern seine selbstgefällige Art augenblicklich. Man vergaß allzu leicht, daß Bill nicht nur schwülstig, sondern auch großzügig sein konnte._ »Das ist ja toll, oder nicht? Ein Job!«

»Das ist es. Möchtest du es mit einem Mittagessen feiern? Zwei Türen vom Rite Aid entfernt gibt es einen hübschen kleinen Imbiß - Day Break, Sun Down heißt er. Vielleicht ein bißchen zu alternativ angehaucht, aber -«

»Danke, aber ich habe Bobs Tochter versprochen, daß ich vorbeikommen und eine Weile bei ihm sitzenbleiben würde. Selbstverständlich hat er nicht die geringste Ahnung, wer ich bin, aber das spielt keine Rolle, weil ich weiß, wer er ist. Capisce?«

»Jawoll«, sagte Ralph. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, ja?«

»So ist es.« McGovern las die Postkarte noch einmal, immer noch grinsend. »Das ist die Wucht - die absolute Wucht in Tüten!«

Ralph mußte über diesen reizenden, altmodischen Ausdruck lachen. »Fand ich auch.«

»Ich hätte fünf Piepen mit dir gewettet, daß sie wieder in die Ehe mit diesem Verstörten zurückkehren und das Baby mit seinem verdammten Wagen vor sich herschieben würde... aber ich hätte das Geld mit Freuden verloren. Ich nehme an, das klingt verrückt.«

»Ein wenig«, sagte Ralph, aber nur weil er wußte, daß McGovern das zu hören erwartete. In Wirklichkeit dachte er, daß Bill McGovern gerade seinen Charakter und sein Weltbild treffender zusammengefaßt hatte, als Ralph es selbst je vermocht hätte.

»Schön zu wissen, daß es jemandem besser statt schlechter geht, was?«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

»Hat Lois das schon gesehen?«

Ralph schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht zu Hause. Ich zeige ihr die Karte aber, wenn ich sie sehe.«

»Tu das. Schläfst du besser, Ralph?«

»Ich denke, es geht ganz gut.« »Prima. Du siehst ein bißchen besser aus. Ein bißchen kräftiger. Wir dürfen nicht aufgeben, Ralph, nur darauf kommt es an. Hab ich recht?«

»Ich schätze schon«, sagte Ralph und seufzte. »Ich schätze schon, jedenfalls damit.«

3

Zwei Tage später saß Ralph an seinem Küchentisch, aß eine Schüssel Kleieflocken, die er eigentlich gar nicht wollte (von denen er aber auf eine vage Weise vermutete, daß sie gut für ihn waren), und las die erste Seite der Derry News. Er hatte den Leitartikel hastig überflogen, aber sein Blick fiel immer wieder auf das Foto; es schien sämtliche negativen Gefühle auszudrücken, mit denen er den vergangenen Monat gelebt hatte, ohne sie in irgendeiner Form zu erklären.

Ralph fand, daß die Schlagzeile über der Fotografie -DEMONSTRATION VOR WOMAN-CARE ENDET IN GEWALT

- keineswegs den anschließenden Artikel reflektierte, aber das überraschte ihn nicht; er las die News nun schon seit Jahren und hatte sich an ihre Voreingenommenheit gewöhnt, zu der auch ein entschiedener Anti-Abtreibungs-Standpunkt gehörte. Dennoch hatte das Blatt sorgfältig darauf geachtet, sich im heutigen »Tss-tss, nun aber Schluß damit, Jungs«-Editorial von den Friends of Life zu distanzieren, und das überraschte Ralph nicht. Die Friends hatten sich auf dem Parkplatz zwischen Woman-Care und dem Derry Home Hospital versammelt und auf eine Gruppe von zweihundert Abtreibungsbefürwortern gewartet, die vom Bürgerzentrum durch die Stadt marschiert waren. Die meisten Protestierenden trugen Schilder mit dem Bild von Susan Day und dem Motto FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST.

Es war die Absicht der Demonstranten gewesen, unterwegs Anhänger mitzureißen, wie ein Schneeball, der bergab rollt. Bei Woman-Care sollte eine kurze Veranstaltung stattfinden - um die Leute auf den bevorstehenden Besuch von Susan Day einzustimmen -, anschließend sollten Erfrischungen gereicht werden. Die Veranstaltung fand nie statt. Als sich die Befürworter dem Parkplatz näherten, kamen die Anhänger der Friends of Life aus ihrem Versteck und versperrten die Straße, wobei sie ihre eigenen Schilder (MORD IST MORD, SUSAN DAY, BLEIB FORT; STOPPT DAS GEMETZEL AN UNSCHULDIGEN) wie Schutzschilde vor sich hertrugen.

Die Demonstranten waren von der Polizei eskortiert worden, aber niemand war darauf vorbereitet gewesen, wie schnell Zwischenrufe und böse Worte zu Fußtritten und Faustschlägen eskalieren könnten. Angefangen hatte es damit, daß eine Angehörige der Friends of Life ihre eigene Tochter unter den Befürwortern entdeckt hatte. Die ältere Frau hatte ihr Schild fallen lassen und war auf die jüngere zugestürmt. Der Freund der Tochter hatte die ältere Frau abgefangen und versucht, sie festzuhalten. Als Mom ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzte, hatte der junge Mann sie zu Boden geworfen. Das hatte zu einem zehnminütigen Handgemenge und über dreißig Festnahmen geführt, etwa zu gleichen Teilen aus beiden Gruppen.

Das Bild auf der Titelseite der heutigen News zeigte Hamilton Davenport und Dan Dalton. Der Fotograf hatte Davenport mit einem verzerrten Gesichtsausdruck erwischt, der sich völlig von seinem sonstigen Ausdruck gelassener Selbstzufriedenheit unterschied. Eine Faust hatte er als primitive Geste des Triumphs über den Kopf erhoben. Ihm gegenüber stand der große Zampano der Friends of Life, der Hams FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST-Schild oben um den Kopf herum trug wie einen surrealistischen Heiligenschein aus Pappe. Daltons Augen waren umwölkt, sein Mund schlaff. Auf dem kontrastreichen Schwarzweißfoto sah das Blut, das aus seinen Nasenlöchern floß, wie Schokoladensauce aus.

Ralph wandte den Blick eine Zeitlang davon ab, versuchte sich auf seine Frühstücksflocken zu konzentrieren, und dann mußte er wieder an den Tag im vergangenen Sommer denken, als er zum erstenmal einen dieser »Pseudo-Steckbriefe« gesehen hatten, die nun überall in Derry hingen - den Tag, als er vor dem Strawford-Park fast das Bewußtsein verloren hatte. Am meisten konzentrierte sich sein Verstand auf die Gesichter: Davenports voll wütender Intensität, als er zum staubigen Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes hineinschaute, Daltons mit einem kleinen, abfälligen Lächeln, als wollte er sagen, daß man von einem Affen wie Hamilton Davenport nicht erwarten konnte, daß er die höhere Moral der Abtreibungsfrage begriff, wie sie beide sehr wohl wußten.