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Ralph mußte an diese beiden Mienen und die Distanz zwischen den beiden Männern denken, die sie zur Schau stellten, und nach einer Weile wanderte sein bestürzter Blick zu dem Zeitungsfoto zurück. Zwei Männer standen dicht hinter Dalton, beide trugen Pro-Life-Spruchbänder und beobachteten die Auseinandersetzung aufmerksam. Ralph kannte den hageren Mann mit der Hornbrille und dem schütteren grauen Haarschopf nicht, aber den Mann neben ihm kannte er durchaus. Es war Ed Deepneau. Doch in diesem Zusammenhang schien Ed fast gar keine Rolle zu spielen. Was Ralph fesselte - und ängstigte -, waren die Gesichter der beiden Männer, die seit Jahren benachbarte Geschäfte in der Lower Witcham Street betrieben-Davenport mit seiner Höhlenmenschengrimasse und der geballten Faust, Dalton mit dem leeren Blick und der blutigen Nase.

Er dachte: Wenn man mit seiner Leidenschaft nicht aufpaßt, bringt sie einen so weit. Aber an dieser Stelle sollte es besser aufhören, denn...

»Denn wenn die beiden Kanonen gehabt hätten, hätten sie sich gegenseitig erschossen«, murmelte er, und in diesem Augenblick läutete es an der Tür - der zur vorderen Veranda. Ralph stand auf, betrachtete das Bild noch einmal und spürte, wie eine Art Schwindel über ihn kam. Eine seltsame, bedrückende Gewißheit ging damit einher: Ed stand da unten, und weiß Gott, was er wollte.

Dann mach nicht auf, Ralph!

Er stand einen unentschlossenen Augenblick neben dem Küchentisch und wünschte sich verzweifelt, er könnte den Nebel durchdringen, der dieses Jahr Dauergast in seinem Kopf zu sein schien. Dann läutete es noch einmal, und er stellte fest, daß er sich schon entschieden hatte. Es hätte keine Rolle gespielt, wenn Saddam Hussein da unten gestanden hätte; dies war sein Haus, und er würde sich nicht darin verstecken wie ein geprügelter Köter.

Ralph durchquerte das Wohnzimmer, machte die Tür zur Diele auf und ging die schattige Treppe hinunter.

Auf halbem Weg nach unten entspannte er sich ein wenig. Die obere Hälfte der Tür zur vorderen Veranda bestand aus dicken Glasscheiben. Sie verzerrten den Blick, aber nicht sehr, und daher konnte Ralph sehen, daß es sich bei seinen beiden Besuchern um Frauen handelte. Er erriet sofort, wer eine von ihnen sein mußte, daher hastete er den Rest des Wegs nach unten und ließ eine Hand leicht auf dem Geländer hinabgleiten. Er riß die Tür auf, und da stand Helen Deepneau mit einer Tragetasche (BABYSTATION ERSTE HILFE war auf eine Seite aufgedruckt) über der einen Schulter; über die andere sah Natalie, deren Augen so sehr glänzten wie die einer Zeichentrickmaus. Helen lächelte hoffnungsvoll und ein wenig nervös.

Plötzlich strahlte Natalie über das ganze Gesicht, hüpfte in dem Babytragegurt von Papoose auf und ab, den Helen trug, und winkte mit den Armen aufgeregt in Ralphs Richtung.

Sie erinnert sich an mich, dachte Ralph. Was sagt man dazu. Und als er den Arm ausstreckte und eine der winkenden Hände seinen rechten Zeigefinger ergreifen ließ, schössen ihm Tränen in die Augen.

»Ralph?« fragte Helen. »Alles in Ordnung?«

Er lächelte, nickte, kam näher und umarmte sie. Er spürte, wie ihm Helen die Arme um den Hals legte. Einen Augenblick machte ihn der Duft ihres Parfüms schwindlig, in den sich der Milchgeruch des gesunden Babys mischte, dann gab sie ihm einen hallenden Schmatz aufs Ohr und ließ ihn los.

»Es ist alles in Ordnung, oder nicht?« fragte sie. Auch in ihren Augen standen Tränen, aber Ralph bemerkte sie kaum; er war zu sehr mit seiner Inventur beschäftigt, da er sicherstellen wollte, daß keine Spuren der Prügel zurückgeblieben waren. Soweit er erkennen konnte, waren keine mehr zu sehen. Sie sah makellos aus.

»Im Augenblick mehr als in den letzten Wochen«, sagte er. »Du bist so ein wunderschöner Anblick für meine alten Augen. Und du auch, Nat.« Er küßte die kleine, pummelige Hand, die noch seinen Finger hielt, und war nicht völlig überrascht, als er den geisterhaften grau-blauen Lippenabdruck sah, den sein Mund hinterlassen hatte. Er verblaßte fast, ehe Ralph ihn richtig zur Kenntnis genommen hatte, und er umarmte Helen noch einmal

- in erster Linie um sicherzustellen, daß sie wirklich da war.

»Lieber Ralph« murmelte sie ihm ins Ohr. »Lieber, süßer Ralph.«

Er spürte eine Regung in den Lenden, die offenbar durch das Zusammenwirken ihres Parfüms und des sanften Kitzels ihres Atems an seinem Ohr hervorgerufen wurde... und dann fiel ihm eine andere Stimme ein, die ihm ins Ohr gesprochen hatte. Eds Stimme. Ich habe wegen deinem Mund angerufen, Ralph. Er versucht, dich in Schwierigkeiten zu bringen.

Ralph ließ sie los und hielt sie lächelnd auf Armeslänge von sich. »Du bist ein Anblick für meine trüben Augen, Helen. Der Blitz soll mich treffen, wenn es nicht so ist.«

»Du auch. Ich möchte, daß du eine Freundin von mir kennenlernst. Ralph Robert, Gretchen Tillbury. Gretchen, Ralph.«

Ralph drehte sich zu der anderen Frau um und sah sie zum erstenmal genau an, während er ihre schlanke weiße Hand behutsam in seine große, knotige nahm. Sie war der Typ Frau, bei der ein Mann (auch einer, der die Sechzig schon hinter sich gelassen hatte) gerade stehen und den Bauch einziehen wollte. Sie war groß, etwa einsachtzig, und sie war blond, aber das allein war es nicht. Da war noch etwas anderes - etwas wie ein Geruch, eine Vibration oder eine Aura.

Ja, genau, wie eine Aura. Sie war schlicht und einfach eine Frau, die man nicht übersehen, an der man nicht vorbeidenken konnte, eine Frau, bei deren Anblick man automatisch ins Spekulieren geriet.

Ralph erinnerte sich, wie Helen ihm erzählt hatte, daß Gretchens Mann ihr den Oberschenkel mit einem Küchenmesser aufgeschlitzt und sie liegengelassen hatte, damit sie verblutete. Er fragte sich, wie ein Mann so etwas tun konnte; wie ein Mann ein solches Geschöpf überhaupt mit etwas anderem als Ehrfurcht und Liebe ansehen konnte.

Und möglicherweise ein wenig Lust, nachdem er das »Sie-wandelt-in-Schönheit-wie-die-Nacht«-Stadium hinter sich gelassen hatte. Und übrigens, Ralph, es wäre vielleicht der geeignete Zeitpunkt, deine Augäpfel in die Höhlen zurückzukurbeln.

»Freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Helen hat mir erzählt, wie Sie sie im Krankenhaus besucht haben. Danke für Ihre Hilfe.«

»Es war ein Vergnügen, Helen zu helfen«, sagte Gretchen und schenkte ihm ein atemberaubendes Lächeln. »Sie ist die Art Frau, für die sich die ganze Arbeit lohnt... aber ich denke, das wissen Sie bereits.«

»Das könnte schon sein«, sagte Ralph. »Habt ihr Zeit für eine Tasse Kaffee? Bitte, sagt ja, wenn ihr könnt. Ich möchte euch wirklich noch eine Weile bei mir haben.«

Gretchen sah Helen an, die nickte.

»Das wäre schön«, sagte Helen. »Denn... nun...«

»Es ist nicht nur ein reiner Höflichkeitsbesuch, richtig?« fragte Ralph, der von Helen zu Gretchen Tillbury und wieder zurück zu Helen sah.

»Nein«, sagte Helen. »Wir müssen uns über etwas unterhalten, Ralph.«

5

Kaum hatten sie das obere Ende der halbdunklen Treppe erreicht, zappelte Natalie unruhig in dem Papoose-Träger und plapperte in dem gebieterischen Babylatein, das nur allzu bald richtigen, verständlichen Wörtern weichen würde.

»Kann ich sie nehmen?« fragte Ralph.

»Einverstanden«, sagte Helen. »Wenn sie weint, nehme ich sie wieder.«