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Und wegen ihrer eigenen Hilflosigkeit, dachte Ralph. Das macht sie am wütendsten.

Und er wußte das alles. Wußte es. Einfach so.

»Ich werde noch eine Weile in High Ridge bleiben«, sagte Helen. »Vielleicht bis zum Winter. Nat und ich werden letztendlich wieder in die Stadt ziehen, nehme ich an, aber das Haus wird zum Verkauf angeboten. Wenn es jemand tatsächlich kauft und da der Immobilienmarkt am Boden liegt, ist das mit einem großen Fragezeichen versehen -, geht das Geld auf ein Sperrkonto. Dieses Konto wird dann entsprechend dem Urteil aufgeteilt. Du weißt schon - dem Scheidungsurteil.«

Ihre Unterlippe zitterte. Ihre Aura war noch mehr geschrumpft und umgab den Körper jetzt wie eine zweite Haut, und Ralph konnte winzige rote Pünktchen darin pulsieren sehen. Sie sahen aus wie Funken, die über einem Verbrennungsofen tanzten. Er streckte den Arm über den Tisch aus, ergriff ihre Hand und drückte sie. Sie lächelte ihm dankbar zu.

»Damit hast du mir zwei Dinge verraten«, sagte er. »Daß du die Scheidung durchziehst und daß du immer noch Angst vor ihm hast.«

»Sie ist in den letzten drei Jahren ihrer Ehe regelmäßig verprügelt und mißbraucht worden«, sagte Gretchen. »Logisch, daß sie immer noch Angst vor ihm hat.« Sie sagte es ruhig und vernünftig, aber als er ihre Aura jetzt ansah, war es, als würde er in eines der kleinen Marienglasfenster sehen, die man früher in den Türen von Kohleöfen fand.

Er blickte auf das Baby hinunter und sah es in seiner eigenen gazeartigen, gleißenden Aura aus Hochzeitssatin. Sie war kleiner als die der Mutter, aber ansonsten identisch... wie seine grünen Augen und das kastanienfarbene Haar. Natalies Ballonschnur stieg als reines weißes Band von ihrem Kopf auf und schwebte bis unter die Decke, wo sie sich tatsächlich neben der Lampe zu einem ätherischen Knäuel krümmte. Als ein Lufthauch zum offenen Fenster beim Herd hereinwehte, sah er das weiße Band wanken und flattern. Er sah auf und stellte fest, daß die Ballonschnüre von Helen und Gretchen ebenfalls flatterten.

Und wenn ich meine eigene sehen könnte, würde sie es auch tun, dachte er. Es ist echt - was immer der Zwei-plus-zweigleich-vier-Teil meines Verstandes auch denken mag, die Auren sind real. Sie sind real, und ich kann sie sehen.

Er wartete auf den unausweichlichen Widerspruch, aber diesmal erfolgte keiner.

»Im Augenblick komme ich mir vor, als würde ich die meiste Zeit in einer emotionalen Waschmaschine verbringen«, sagte Helen. »Meine Mom ist wütend auf mich... fehlt nur noch, daß sie mich einen Drückeberger nennt... und manchmal fühle ich mich wie ein Drückeberger... ich schäme mich... «

»Du hast keinen Grund, dich zu schämen«, sagte Ralph. Er schaute auf, als Natalies Ballonschnur wieder in der Brise flatterte. Es war wunderschön, aber er verspürte keinen Wunsch, sie zu berühren; ein tiefverwurzelter Instinkt sagte ihm, daß das gefährlich für sie beide sein könnte.

»Ich glaube, das weiß ich«, sagte Helen, »aber Mädchen machen eine Menge Indoktrination durch. Ungefähr so: >Hier ist deine Barbie, hier ist dein Ken, hier ist deine Hosteß-

Spielküche. Lerne viel, denn wenn es ernst wird, ist das deine Aufgabe, und wenn etwas kaputtgeht, wird man dir die Schuld geben.< Und ich glaube, ich hätte damit leben können -wirklich. Aber niemand hat mir gesagt, daß Ken in manchen Ehen verrückt wird. Hört sich das an, als wäre ich nachsichtig gegen mich selbst?«

»Nein. Soweit ich das beurteilen kann, hat es sich ziemlich genauso zugetragen.«

Helen lachte - ein abgehacktes, verbittertes, schuldbewußtes Lachen. »Versuch nicht, das meiner Mutter zu erklären. Sie weigert sich zu glauben, daß Ed jemals mehr getan hat, als mir ab und zu als Ehemann einen kleinen Klaps auf den Hintern zu geben... damit ich wieder auf den rechten Weg zurückkomme, sollte ich davon abgekommen sein. Sie glaubt, den Rest habe ich mir eingebildet. Sie rückt nicht offen damit heraus und sagt es, aber ich höre es jedesmal in ihrer Stimme, wenn wir telefonieren.«

»Ich glaube nicht, daß du es dir eingebildet hast«, sagte Ralph. »Ich habe dich gesehen, weißt du nicht mehr? Und ich war da, als du mich angefleht hast, nicht die Polizei zu rufen.«

Er spürte, wie sein Oberschenkel unter dem Tisch sanft gequetscht wurde, und sah verblüfft auf. Gretchen Tillbury nickte ihm fast unmerklich zu und kniff ihn noch einmal - jetzt nachdrücklicher.

»Ja«, sagte Helen. »Du warst da, richtig?« Sie lächelte ein wenig, das war gut, aber was mit ihrer Aura passierte, war noch besser - die winzigen roten Fünkchen verblaßten, und die Aura selbst dehnte sich wieder aus.

Nein, dachte er. Sie dehnt sich nicht aus. Sie lockert sich wieder. Entspannt sich.

Helen stand auf und kam um den Tisch herum. »Nat wird deiner überdrüssig - laß lieber mich sie nehmen.«

Ralph schaute auf und sah Nat an, die mit großen, faszinierten Augen durch das Zimmer sah. Er folgte ihrem Blick zu der kleinen Vase auf dem Fenstersims. Vor nicht einmal zwei Stunden hatte er sie mit Herbstblumen gefüllt, und jetzt strömte ein dunkelgrüner Nebel aus den Stengeln und hüllte die Blüten mit seinem feinen, dunstigen Schimmer ein.

Ich sehe, wie sie ihren letzten Atem aushauchen, dachte Ralph. O mein Gott, ich werde nie wieder in meinem Leben Blumen pflücken. Ich verspreche es.

Helen nahm ihm das Baby behutsam aus den Armen. Nat ließ es fügsam mit sich geschehen, ließ aber die dampfenden Blumen nicht aus den Augen, während ihre Mutter wieder um den Tisch herumging, sich setzte und sie in die Armbeuge bettete.

Gretchen klopfte leicht auf die Uhr. »Wenn wir noch zu der Versammlung am Mittag kommen wollen -«

»Ja, natürlich«, sagte Helen ein wenig entschuldigend. »Wir gehören zum offiziellen Begrüßungskomitee von Susan Day«, informierte sie Ralph, »und in diesem Fall ist das nicht ganz so typisch Juniorenliga, wie es sich anhört. Unsere Hauptaufgabe besteht eigentlich nicht darin, sie zu begrüßen, sondern sie beschützen zu helfen.«

»Glaubst du, daß das ein Problem wird?«

»Sagen wir mal so, die Gefahr besteht«, sagte Gretchen. »Sie hat ein halbes Dutzend eigene Leibwächter dabei, und die haben uns sämtliche Drohbriefe im Zusammenhang mit Derry gefaxt, die sie bekommen hat. Das ist Standardprozedur bei ihnen - sie ist schon seit einigen Jahren im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Sie halten uns auf dem laufenden, haben aber durchblicken lassen, daß Woman-Care als Organisation, die sie eingeladen hat, ebenso für ihre Sicherheit verantwortlich ist wie sie.«

Ralph machte den Mund auf, um zu fragen, ob es viele Drohungen gegeben hätte, aber er vermutete, daß er die Antwort darauf bereits kannte. Er hatte mit Unterbrechungen siebzig Jahre lang in Derry gelebt und wußte, daß es eine gefährliche Maschine war - unter der Oberfläche lauerten viele scharfe Spitzen und Schnittkanten. Das traf selbstverständlich auf viele Städte zu, aber in Derry schien das Häßliche schon immer eine zusätzliche Dimension gehabt zu haben. Helen hatte es ihre Heimat genannt, und es war auch seine Heimat, aber...

Er erinnerte sich an etwas, das sich vor fast zehn Jahren abgespielt hatte, kurz nach dem Ende des jährlichen KanalFestivals. Drei Jungs hatten einen bescheidenen und harmlosen jungen Schwulen namens Adrian Mellon in den Kenduskeag geworfen, nachdem sie ihn mehrmals gebissen und auf ihn eingestochen hatten; man munkelte, daß sie auf der Brücke hinter der Falcon Tavern gestanden und zugesehen hätten, wie er starb. Der Polizei sagten sie, daß ihnen der Hut nicht gefallen hätte, den er trug. Auch das war Derry, und nur ein Narr hätte so getan, als wüßte er es nicht.

Als hätte der Gedanke ihn daran erinnert (was möglicherweise zutraf), betrachtete Ralph wieder das Foto auf der ersten Seite der heutigen Zeitung - Harn Davenport mit erhobenen Fäusten, Dan Dalton mit der blutigen Nase und dem leeren Blick, der Harns Schild auf dem Kopf trug.