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»Woher wissen Sie das?« fragte Ralph.

»Wir haben die Akten im Rathaus durchgesehen«, antwortete sie und grinste. »Waffenscheine sind öffentliche Unterlagen.«

»Oh.« Dann kam ihm ein Gedanke. »Was ist mit Ed? habt ihr ihn überprüft? Hat er eine?«

»Nee«, sagte sie. »Aber Typen wie Ed beantragen nicht unbedingt einen Waffenschein, wenn sie einen bestimmten Punkt überschritten haben... das wissen Sie doch, oder nicht?«

»Ja«, antwortete Ralph, der ebenfalls aufstand. »Ich denke schon. Was ist mit euch beiden? Seid ihr auf der Hut?«

»Worauf Sie sich verlassen können, Väterchen. Worauf Sie sich verlassen können.«

Er nickte, war aber nicht völlig zufrieden. Ihre Stimme hatte einen gönnerhaften Unterton, der ihm nicht besonders gefiel, als wäre die Frage an sich albern. Aber die Frage war nicht albern, und wenn sie das nicht wußte, konnten sie und ihre Freundinnen in Schwierigkeiten kommen. In große Schwierigkeiten.

»Das hoffe ich«, sagte er. »Wirklich. Kann ich Nat für dich nach unten tragen, Helen?«

»Besser richt - du würdest sie aufwecken.« Sie sah ihn ernst an. »Würdest du mir zuliebe die Spraydose nehmen, Ralph? Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß dir etwas zustößt, weil du versucht hast, mir zu helfen, und dieser Kerl nicht mehr ganz bei Trost ist.«

»Ich denke ernsthaft darüber nach. Reicht dir das?«

»Ich glaube, das muß es wohl.« Sie betrachtete prüfend sein Gesicht. »Du siehst viel besser aus als bei unserer letzten Begegnung - du schläfst wieder, richtig?«

Er grinste. »Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich habe immer noch meine Probleme, aber es muß mir besser gehen, weil mir jeder dasselbe sagt.«

Sie stellte sich auf Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf den Mundwinkel. »Wir bleiben in Verbindung, oder?« »Ich werde meinen Teil dazu beitragen, wenn du deinen beiträgst, meine Süße.«

Sie lächelte. »Darauf kannst du dich verlassen, Ralph - du bist der netteste männliche Zenturio, den ich kenne.«

Darüber mußten sie alle lachen, und zwar so laut, daß Natalie aufwachte und sie voll verschlafener Überraschung ansah.

6

Nachdem er sich von den Frauen verabschiedet hatte (ICH BIN FÜR FREIE ENTSCHEIDUNG, UND ICH GEHE WÄHLEN! stand auf der hinteren Stoßstange von Gretchen Tillburys Accord), ging Ralph langsam wieder in den ersten Stock hinauf. Die Müdigkeit zog wie unsichtbare Gewichte an seinen Füßen. Als er wieder in der Küche war, sah er zuerst zu der Blumenvase und versuchte, den seltsamen und atemberaubenden grünen Dunst von den Stengeln aufsteigen zu sehen. Nichts. Dann nahm er die Spraydose in die Hand und betrachtete die Zeichnung auf der Seite. Eine bedrohte Frau, die ihren Angreifer heldenhaft abwehrte; ein böser Bube mit Augenmaske und Schlapphut. Keine Grautöne, nur ein Fall von Los doch, Dreckskerl, mach mir die Freude.

Ralph überlegte sich, ob Eds Wahnsinn ansteckend sein könnte. Überall in Derry gab es Frauen - darunter Gretchen Tillbury und seine reizende Helen -, die mit diesen kleinen Spraydosen in den Handtaschen herumliefen, und sämtliche Spraydosen sagten im Grunde genommen das gleiche: Ich habe Angst. Böse Männer mit Schlapphüten und Augenmasken sind in Derry eingetroffen, und ich habe Angst.

Ralph wollte nichts damit zu tun haben. Er stellte sich auf Zehenspitzen und verstaute die Spraydose Bodyguard auf dem Küchenschrank neben der Spüle, dann schlüpfte er in seine alte graue Lederjacke. Er wollte zum Picknickplatz beim Flughafen gehen und sehen, ob er eine Partie Schach spielen konnte. Und wenn daraus nichts wurde, vielleicht ein paar Runden Cribbage.

Unter der Tür blieb er stehen, sah die Blumen starr an und versuchte, den wabernden grünen Nebel herbeizuzwingen. Nichts geschah.

Aber er war da. Du hast ihn gesehen; Natalie auch.

Hatte sie das? Hatte sie das wirklich? Babys sahen andauernd etwas an, alles setzte sie in Erstaunen, wie also wollte er es mit Sicherheit wissen?

»Ich weiß es eben«, sagte er zu der verlassenen Wohnung. Richtig. Der grüne Nebel, der von den Stengeln der Blumen aufgestiegen war, war da gewesen, alle Auren waren da gewesen, und...

»Und sie sind noch da«, sagte er und wußte nicht, ob die Gewißheit in seiner Stimme ihn betroffen oder erleichtert machen sollte.

Warum im Augenblick nicht beides, Süßer?

Sein Gedanke, Carolyns Stimme, ein guter Rat.

Ralph schloß sein Apartment ab und ging ins Derry der Altvorderen, um eine Partie Schach zu spielen.

Kapitel 7

Als Ralph am zweiten Oktober auf dem Weg zu seinem Apartment die Harris Avenue hoch kam, in einer Hand zwei Secondhandwestern von Eimer Kelton aus dem Back Pages, sah er jemand mit seinem eigenen Buch auf der Veranda sitzen. Aber der Besucher las nicht; er beobachtete mit verträumter Aufmerksamkeit, wie der warme Wind, der den ganzen Tag geweht hatte, die gelben und goldenen Blätter von den Eichen und den drei verbliebenen Ulmen auf der anderen Straßenseite erntete.

Ralph kam näher, sah das dünne weiße Haar, das dem Mann auf der Veranda um den Schädel wehte, und sein Körpergewicht, das sich einzig und allein in Bauch, Hüften und Hintern zu konzentrieren schien. Die üppige Leibesmitte in Verbindung mit dem dünnen Hals, der schmalen Brust und den spindeldürren Beinen verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der einen Schwimmreifen trug. Selbst aus hundertfünfzig Meter Entfernung konnte kein Zweifel daran bestehen, um wen es sich bei seinem Besucher handelte: Dorrance Marstellar.

Seufzend legte Ralph die restliche Strecke bis zu seinem Haus zurück. Dorrance, der von den bunten, fallenden Blättern hypnotisiert zu sein schien, sah erst auf, als Ralphs Schatten auf ihn fiel. Dann drehte er den Hals und lächelte sein seltsames, verwundbares Lächeln.

Faye Chapin, Don Veazie und einige der anderem Oldtimer, die auf dem Picknickplatz bei Startbahn 3 herumhingen (sie würden sich bald ins Billard Emporium in der Jackson Street zurückziehen, da der Indianersommer angefangen hatte und das Wetter langsam kalt wurde), betrachteten dieses Lächeln als weiteren Beweis dafür, daß der alte Dor Gedichtbände hin oder her, im Grunde genommen senil war. Don Veazie, den gewiß niemand für Mr. Feinfühlig hielt, hatte sich angewöhnt, Dorrance den Alten Dummkopf zu nennen, und Faye hatte Ralph einmal erzählt, daß es ihn nicht im geringsten wunderte, wie der alte Dor fünfundneunzig hatte werden können. »Leute, die nichts mehr im Oberstübchen haben, leben immer am längsten«, hatte er Ralph Anfang des Jahres erklärt. »Sie müssen sich um nichts Sorgen machen. Das senkt den Blutdruck und die Wahrscheinlichkeit, daß ein Ventil platzt oder ein Brennstab durchschmort.«

Ralph jedoch war nicht so sicher. Für ihn sah der alte Mann mit seinem liebenswürdigen Lächeln nicht hohlköpfig aus; es machte ihn irgendwie ätherisch und gleichzeitig wissend... eine Art Kleinstadt-Merlin. Trotzdem hätte er heute auf einen Besuch von Dor verzichten können; heute morgen hatte er einen neuen Rekord aufgestellt und war um 1:58 Uhr aufgewacht, und er war erschöpft. Er wollte nur in seinem Wohnzimmer sitzen, Kaffee trinken und versuchen, die Western zu lesen, die er sich in der Stadt gekauft hatte. Vielleicht würde er später noch einmal versuchen, ein Nickerchen zu machen.

»Hallo«, sagte Dorrance. Das Buch, das er bei sich hatte, war ein Taschenbuch - Cemetery Nights, von einem Autor namens Stephen Dobbyns.

»Hallo, Dor«, sagte er. »Gutes Buch?«

Dorrance sah auf das Buch hinunter, als hätte er vergessen, daß er eines hatte, lächelte und nickte. »O ja, sehr gut. Er schreibt Gedichte, die wie Geschichten sind. Das gefällt mir nicht immer, aber manchmal schon.«

»Das ist gut. Hör zu, Dor, es ist schön, dich zu sehen, aber der Spaziergang den Hügel herauf hat mich müde gemacht, also könntest du vielleicht ein anderm -« »Oh, schon gut«, sagte Dorrance und stand auf. Ein schwacher Zimtgeruch umgab ihn, bei dem Ralph immer an ägyptische Mumien hinter roten Samtkordeln in dunklen Museen denken mußte. Sein Gesicht war fast ohne Falten, abgesehen von winzigen Krähenfüßen um die Augen, aber an sein Alter stand außer Frage (und war ein wenig beängstigend): Seine blauen Augen waren zum wäßrigen Grau eines Aprilhimmels verblaßt, und seine Haut hatte etwas Durchscheinendes, das Ralph an Nats Haut erinnerte. Seine Lippen waren schlaff und fast lavendelfarben. Sie erzeugten kurze Schmatzlaute, wenn er sprach. »Schon gut, ich bin nicht auf einen Besuch gekommen. Ich bin gekommen, um dir eine Botschaft zu überbringen.«