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Geh nicht näher hin, sagte er sich. Das hat etwas Böses an sich. Etwas wirklich Böses. Es ist ein schwarzer Hund, der einen blauen Mond anbellt, Blut im Spülbecken, ein Rabe auf der Büste der Pallas Athene direkt neben der Kammertür. Du solltest nicht in seine Nähe gehen, und du mußt nicht in seine Nähe gehen, denn dies ist einer von Joe Wyzers lichten Träumen. Du kannst einfach umkehren und weggehen, wenn du willst.

Aber seine Füße trugen ihn trotzdem weiter, also war es vielleicht doch kein lichter Traum. Und nicht angenehm, ganz und gar nicht. Denn je näher er dem Gegenstand am Strand kam, desto weniger Ähnlichkeit hatte dieser mit einem Basketball.

Es war bei weitem der realistischste Traum, den Ralph je erlebt hatte, und weil er wußte, daß er träumte, schien das Gefühl von Realismus noch stärker als sonst zu sein. Er konnte den feinen, lockeren Sand unter den bloßen Füßen spüren, warm, aber nicht heiß; er konnte das knirschende, felsige Tosen der Wellen hören, die das Gleichgewicht verloren und über dem Strand zusammenstürzten, wo der Sand wie sonnengebräunte, nasse Haut glänzte; er konnte Salz und trocknenden Seetang riechen, einen starken, tränenreichen Geruch, der ihn an Sommerferien in Old Orchard Beach erinnerte, als er ein Kind gewesen war.

He, alter Kumpel, wenn du diesen Traum nicht verändern kannst, solltest du vielleicht die Notbremse ziehen und aussteigen - mit anderen Worten, weck dich auf, aber sofort.

Er hatte die halbe Strecke zu dem Gegenstand am Strand zurückgelegt, und nun konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, worum es sich handelte - kein Baseball, sondern ein Menschenkopf. Jemand hatte einen Menschen bis zum Hals im Sand eingegraben... und plötzlich stellte Ralph fest, daß die Flut kam.

Er stieg nicht aus, er fing an zu laufen. Als er das tat, berührte die Schaumkrone einer Welle den Kopf. Der Kopf riß den Mund auf und fing an zu schreien. Trotz des schrillen Schreis erkannte Ralph die Stimme sofort. Es war die von Carolyn.

Die Gischt einer zweiten Welle strömte über den Strand und spülte das Haar zurück, das an den nassen Wangen des Kopfs geklebt hatte. Ralph lief schneller, obwohl er wußte, er würde mit ziemlicher Sicherheit zu spät kommen. Die Flut kam immer schneller. Carolyn würde, lange bevor er ihren eingegrabenen Leib freilegen konnte, ertrinken.

Du mußt sie nicht retten, Ralph. Carolyn ist schon tot, und sie ist nicht an einem menschenleeren Strand gestorben. Es ist im Zimmer 317 des Derry Home Hospital passiert. Du warst bis zum Ende bei ihr, und du hast keine Brandung gehört, sondern Schneeregen, der ans Fenster prasselte. Weißt du das nicht mehr?

Er wußte es noch, lief aber nichtsdestotrotz schneller; staubige Sandwölkchen stoben hinter ihm hoch.

Aber du wirst sie nie erreichen; du weißt, wie das in Träumen ist, oder nicht? Alles, wohin du läufst, verwandelt sich in etwas anderes.

Nein, so hatte das in dem Gedicht nicht geheißen... oder doch? Ralph war sich nicht mehr sicher. Er wußte nur noch genau, daß am Ende der Erzähler vor etwas Tödlichem geflohen war (ich sehe über die Schulter und erkenne seine Gestalt) das ihn durch den Wald verfolgte... ihn verfolgte und näherkam.

Aber er näherte sich tatsächlich dem dunklen Gegenstand im Sand. Und der verwandelte sich auch nicht in etwas anderes, und als Ralph vor Carolyn auf die Knie fiel, wurde ihm sofort klar, warum er die Frau, mit der er dreiunddreißig Jahre lang verheiratet gewesen war, nicht einmal aus der Ferne hatte erkennen können: Etwas stimmte nicht mit ihrer Aura. Sie klebte an ihrer Haut wie ein Schmutzwäschebeutel für die chemische Reinigung. Als Ralphs Schatten über sie fiel, verdrehte Carolyn die Augen wie ein Pferd, das sich beim Sprung über einen hohen Zaun ein Bein gebrochen hat. Sie atmete in raschen, erschrockenen Zügen, und bei jedem Ausatmen schössen grauschwarze Aurastrahlen aus ihren Nasenlöchern.

Die zerfetzte Ballonschnur, die von ihrem Kopf aufstieg, war so purpur-schwarz wie eine schwärende Wunde. Als sie den Mund aufmachte, um noch einmal zu schreien, strömte eine häßlich leuchtende Substanz in gummiartigen Fäden von ihren Lippen, die fast wieder verschwunden waren, bevor seine Augen ihre Existenz richtig wahrgenommen hatten.

Ich werde dich retten, Caroll rief er. Er ließ sich auf die Knie fallen und grub im Sand um sie herum wie ein Hund, der einen Knochen ausbuddelt... und bei diesem Gedanken wurde ihm bewußt, daß Rosalie, der frühmorgendliche Streuner der Harris Avenue, müde hinter seiner schreienden Frau saß. Es war, als wäre der Hund durch den Gedanken herbeibeschworen worden. Rosalie, sah er, war ebenfalls von einer schmutzigen schwarzen Aura umgeben. Sie hielt Bill McGoverns verschwundenen Panamahut zwischen den Pfoten, der aussah, als hätte sie kräftig darauf herumgekaut, seit er in ihren Besitz gelangt war.

Dahin ist der verfluchte Hut also verschwunden, dachte Ralph, drehte sich wieder zu Carolyn um und fing noch schneller an zu graben. Bis jetzt war es ihm nicht gelungen, auch nur eine Schulter freizulegen.

Laß mich! schrie Carolyn ihn an. Ich bin schon tot, weißt du nicht mehr? Achte auf die Spuren des weißen Mannes, Ralph! Die eine Welle, glasig grün unten, oben mit weißem Schaum gekrönt, brach keine drei Meter entfernt am Strand. Sie rannte auf dem Sand auf sie zu, brachte Ralphs Hoden in dem kalten Wasser zum Erschauern, und begrub Carolyns Kopf vorübergehend unter einer Flutwelle sandigen Schaums. Als das Wasser zurückging, stieß Ralph selbst einen gräßlichen Schrei himmelwärts aus. Die Welle hatte in Sekunden geschafft, wozu die Bestrahlungen fast einen Monat gebraucht hatten; sie hatte ihr das Haar genommen und sie kahl zurückgelassen. Und ihr Kopf blähte sich an der Stelle auf, wo die schwarze Ballonschnur befestigt war.

Carolyn, nein! heulte er und grub noch schneller. Der Sand war jetzt naß und unangenehm schwer.

Vergiß es, sagte sie. Schwarzgraue Wölkchen kamen bei jedem Wort aus ihrem Mund wie schmutziger Rauch aus einem Industrieschlot. Es ist nur der Tumor, und der ist inoperabel, also hab keine schlaflosen Nächte wegen dem Teil der Vorstellung. Zum Teufel, es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen, richtig? Aber du mußt nach diesen Spuren Ausschau halten...

Carolyn, ich weiß nicht, wovon du sprichst!

Eine weitere Welle kam, durchnäßte Ralph bis zur Taille und begrub Carolyn wieder unter sich. Als die Welle zurückwich, platzte die Schwellung auf Carolyns Kopf allmählich auf.

Das wirst du bald herausfinden, antwortete Carolyn, und dann barst die Schwellung auf ihrem Kopf mit einem Geräusch, als hätte ein Hammer auf ein Stück Fleisch geschlagen. Ein Blutschwall spritzte in die kalte, nach Salz riechende Luft, und plötzlich ergoß sich ein Schwärm Käfer so groß wie Kakerlaken aus ihrem Inneren. Ralph hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen nicht einmal in einem Traum -, daher erfüllten sie ihn mit fast hysterischem Abscheu. Er wäre geflohen, trotz Carolyn, aber er war erstarrt und konnte nicht einmal einen Finger rühren, geschweige denn aufstehen und weglaufen.

Einige der Käfer liefen durch den schreienden Mund in Carolyn zurück, aber die meisten wuselten über die Wangen und Schultern auf den nassen Sand. Dabei betrachteten sie Ralph unablässig mit ihren vorwurfsvollen Insektenaugen. Das ist alles deine Schuld, schienen die Augen zu sagen. Du hättest sie retten können, Ralph, und ein besserer Mann hätte sie gerettet.

Carolyn! schrie er. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber dann zog er sie zurück, weil ihn vor den schwarzen Käfern ekelte, die immer noch aus ihrem Kopf quollen. Hinter ihr saß Rosalie in ihrer eigenen dunklen Vertiefung, sah ihn ernst an und hielt McGoverns verlegten chapeau im Maul.