»Wie lange steht es denn nun schon leer?«, erkundigte sich Jack. Er hatte schon am Telefon gefragt, doch Daniel Bufo war der Frage ausgewichen. »Eine Weile«, hatte er geantwortet. »Vielleicht weiß es jemand anders genauer.«
Daniel Bufo fand den richtigen Schlüssel und hielt ihn triumphierend in die Höhe. Er war anders als alle Schlüssel, die Jack je gesehen hatte – glich eher einem balinesischen Dolch als einem Instrument zum Öffnen von Türen. »Schlüssel wie diese gibt’s auch nicht mehr heutzutage. Das ist vielleicht ein Mördergerät, was?«
»Was meinen Sie? 20 Jahre, 30 Jahre?«, insistierte Jack.
Daniel Bufo zuckte die Achseln. »Na ja, mein Partner meinte, dass es kurz vor der Jahrhundertwende erbaut wurde. Zuerst war es ein privates Anwesen. Adolf Krüger, der später die Brauerei Krüger Beer gründete, hat es in Auftrag gegeben. Er scheint es kurz nach dem Ersten Weltkrieg verkauft zu haben. Danach wurde es in ein Pflegeheim umgewandelt.«
Er drehte den Schlüssel in der Tür und stieß sie auf. Sie knarrte weder noch klemmte sie. Die Scharniere bewegten sich, als ob sie frisch geölt wären.
Als sie hineingingen, sah Randy auf die blinden Flachrelief-Gesichter und flüsterte: »Warum haben sie alle die Augen geschlossen?«
Daniel Bufo sah hoch und schüttelte dann den Kopf, sodass seine Wangen schwabbelten. »Das kann ich mir genauso wenig erklären wie Sie, mein Freund.«
»Sie sehen aus wie diese Masken«, warf Karen ein. »Wissen Sie, wenn jemand gestorben ist und man sein Gesicht nachbildet.«
»Totenmasken«, sagte Jack.
»Genau, Totenmasken. Unheimlich, oder? Was, wenn es wirklich welche sind? Ein ganzes Haus voller toter Gesichter von Menschen, die zu Lebzeiten genauso ausgesehen haben.«
Sie betraten den riesigen, nachhallenden Gang mit den elfenbeinfarbenen Statuen. Bis auf das Schlurfen ihrer Schuhe über den Boden war es völlig still im Haus. Randy umklammerte die Hand seines Vaters. Karen war sichtlich nervös und fröstelte.
»Na ja, wohnlich ist es nicht gerade«, bemerkte sie.
»Mr. Reed, nach dem, was Sie mir am Telefon verraten haben, spielen Sie mit dem Gedanken, dieses Anwesen in eine Art – was war es? – Urlaubsressort umzuwandeln?«, erkundigte sich Daniel Bufo, während er sich umsah.
»Stimmt genau«. Jack hielt inne und lauschte. Was erwarte ich zu hören?, fragte er sich selbst. Flüsterstimmen? Regenwasser, das ins Gebäude eindringt? Etwa das gleiche Sssschhh-Geräusch, das mich gestern die Treppen hinuntergejagt hat?
»Dafür ist das Anwesen wirklich wie geschaffen!«, sagte Daniel Bufo. »Es gibt einen sehr geräumigen Aufenthaltsraum, ausgesprochen beeindruckend. Man kann es sich alles sehr gut vorstellen, nicht wahr? Licht. Menschen. Leben.«
»Also, ich kann nur Staub und Dreck erkennen!«, mischte sich Karen ein.
»Na jaaaaa!« Daniel Bufo lachte. »Mr. Reed dürfte sich darüber im Klaren sein, dass man ein bisschen Fantasie braucht, um das Beste aus diesem Ort herauszuholen, ganz zu schweigen von einer ordentlichen Stange Geld. Das Haus steht seit den 20er-Jahren leer, sagt mein Partner. Also machen wir uns nichts vor, nicht wahr, Mr. Reed? Sie werden hier neue Kabel verlegen müssen, Klempnerarbeiten durchführen lassen, das Dach ausbessern und isolieren und das Gebäude den örtlichen, bundesstaatlichen und landesweiten Vorgaben anpassen. Wer weiß, was sonst noch alles notwendig ist. Das ist das erste Mal, dass ich selbst hier bin.«
Jack sah sich um und räusperte sich. »Donald Trump hat es geschafft. Es gibt keinen Grund, warum es nicht auch mir gelingen sollte.«
Daniel Bufo sah Karen an und verzog unauffällig das Gesicht. Inzwischen war ihm klar geworden, dass es sich bei Karen nicht um Jacks Frau handelte, weshalb er sie beim Verkaufsgespräch weitgehend außen vor ließ. Außerdem war nicht zu übersehen, dass Jack in Gedanken bereits mit der Renovierung anfing und er das Haus unbedingt haben wollte. Mit einem Käufer wie Jack musste man sehr sensibel umgehen.
Jack trat auf die Statue zu, die am Fuße der Osttreppe postiert war. Ein groß gewachsener, unbeweglicher Koloss mit geschlossenen Augen. Was hast du alles miterleben müssen?, fragte er sich. Was ist hier passiert, dass du deine Augen für immer geschlossen hast?
»Da Sie gerade Donald Trump erwähnten«, warf Daniel Bufo ein. »Es ist möglich, dass der Bundesstaat Wisconsin Ihnen dieses Haus ohne Grundsteuer überlässt, weil Sie beabsichtigen, ein historisches Gebäude umzustrukturieren und den Ortsansässigen Arbeitsplätze zu verschaffen. Zumindest mal für einen begrenzten Zeitraum. Das ist der Deal, den Trump in New York schließen konnte. Erzählen Sie bloß niemandem in Madison, dass ich Sie auf den Trichter gebracht habe, sonst …«
Jack nickte. Karens Pfennigabsätze klapperten laut und hallten an sämtlichen Wänden wider, da ihre Schuhe so abgetragen waren, dass sie bereits auf den Metallspitzen lief. Randy drehte sich immer und immer wieder im Kreis, starrte an die Decke und an den riesigen, mit Spinnweben behangenen Leuchter. Irgendwann hörte er damit auf, weil ihm schwindelig wurde.
»Und? Wollen Sie sich noch ein bisschen genauer umsehen?«, erkundigte sich Daniel Bufo. »Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich werde in der Zwischenzeit mal den Keller checken und nachsehen, in welcher Verfassung die Haustechnik ist.«
Er zog eine riesige, vergilbte Skizze des Kellers hervor und breitete sie auf dem Tisch im Korridor aus, während Randy die Treppe hinaufstieg und Jack und Karen sich Hand in Hand in der Halle umsahen.
»Jack, meinst du es wirklich ernst, dass du das hier kaufen willst?«, wollte Karen mit gerümpfter Nase wissen. »Es ist so alt. Und so schmutzig.«
Jack fuhr mit der Hand über die elfenbeinfarbenen Kleider der Marmorstatue, als ob er davon ausging, dass es sich um Leinen handelte. »Es wird verdammt teuer werden, Karen, aber denk mal drüber nach. Stell dir vor, wie es aussehen wird, wenn es renoviert ist. Die Leute werden aus aller Welt herbeiströmen. Der Merrimac Court Country Club, da muss man einfach mal gewesen sein.«
»Meinst du echt?« Sie sah sich in der Halle um und man merkte ihr deutlich an, dass sie es sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Sie hatte fast ihr gesamtes Leben in einem Wohnwagen verbracht und besaß deshalb eine sehr pragmatische Einstellung.
Jack grinste und nickte. »Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung geht, Karen. Glaub mir.«
»Und was ist mit Reed Muffler & Tire?«, wollte sie wissen. »Wirst du die Firma weiterhin am Laufen halten, hmm? Du wirst den Laden doch nicht etwa dichtmachen, oder? Hierfür, meine ich.«
»Das weiß ich noch nicht«, log er. »Es ist noch zu früh, um eine solche Entscheidung zu treffen. Aber ich will das hier durchziehen, Karen, das kannst du mir glauben. Dieser Laden hat was.«
»Ja, irgendwas von Friedhof!«, antwortete Karen, während sie demonstrativ auf ihrem Kaugummi herumkaute.
Randy erklomm die Stufen zum ersten Stock und spähte dann von der Galerie aus nach unten. Er winkte seinem Vater zu, verkniff sich aber das Rufen, weil es in den Gängen zu sehr hallte und ihm das Angst einjagte. Echos waren ihm unheimlich, denn er bekam dabei immer das Gefühl, dass Wildfremde ihm die eigenen Worte ins Gesicht zurückbrüllten.
Jack winkte zurück und Karen auch. Von oben sahen beide sehr klein aus. Randy mochte Karen. Sie war lustig, roch gut und gab ihm immer Kaugummi. Ihm war nicht ganz klar, was für eine Rolle sie im Leben seines Vaters spielte. Manchmal verhielt Jack sich Karen gegenüber viel liebevoller als gegenüber seiner eigenen Mutter. Randy hatte ein- oder zweimal gesehen, wie er sie geküsst hatte, mehr aber nicht. Sein Vater kam jeden Abend nach Hause und küsste auch seine Mutter und sagte ihr, dass er sie liebte. Manchmal schrie er sogar, dass er sie liebte. Randy wurde aus alledem nicht schlau, aber er sagte nichts, denn das schien sein Vater von ihm zu erwarten.