Jack drehte seinen Eislöffel zwischen den Fingern.
»Randy … ich will, dass du mir jetzt die Wahrheit sagst. Diesen – wie heißt er gleich – Lester, den hast du erfunden, oder? Du hast ihn erfunden, damit Mom dir erlaubt, bei mir zu bleiben, richtig?«
Randy schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn gesehen.«
»In The Oaks?«
Randy nickte. »Er hat gesagt, dass ich es niemandem verraten darf. Nicht meiner Mutter oder meinem Vater oder irgendjemandem sonst.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß es nicht. Eben drum. Er hat gesagt, dass ich es auch den anderen nicht sagen darf, denn die sind gemein und gefährlich. Er sagte, dass man einige von ihnen hinter Schloss und Riegel bringen sollte.«
Eine elterliche Alarmglocke begann in Jacks Kopf zu läuten. Es wurde ihm bewusst, dass Randy durchaus die Wahrheit sagen mochte oder eine Geschichte erzählte, die teilweise aus kleinen Flunkereien bestand und teilweise den Tatsachen entsprach. Kinder in Randys Alter verwendeten in der Regel keine Ausdrücke wie »hinter Schloss und Riegel«, es sei denn, ein Erwachsener hatte sie ihnen in den Mund gelegt.
Es war durchaus möglich, dass Randy jemanden getroffen hatte, während sie The Oaks besichtigten. Das Haus war groß genug und Randy war allein unterwegs gewesen. Aber wer zum Teufel war es? Vielleicht ein Hausbesetzer? Oder ein Perverser, der sich in der Gegend herumtrieb? Mal ehrlich, wie vertrieben sich denn die Hell’s Angels, Pädophile oder Serienmörder bei schlechtem Wetter die Zeit?
Das Sssschhhhhh-Geräusch – vielleicht war er das gewesen, vielleicht war das Lester, der irgendwelche Geheimgänge entlanglief. Ein verdammter Perversling namens Lester, der versucht hatte, Randy mit gutem Zureden und merkwürdigen Drohungen für sich einzunehmen.
Und Herrgott noch mal, wer konnte wissen, was für makabre Dummheiten jemandem wie ihm im Kopf herumspukten?
»Randy«, sagte Jack, »bist du dir da ganz sicher? Dass du einen Mann dort gesehen hast? Das ist eine ernste Angelegenheit, du würdest mich doch nicht anschwindeln?«
Randy nickte. »Ich schwöre es bei meinem Leben.«
»Na ja, das musst du jetzt auch wieder nicht sagen«, erklärte ihm Jack und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich würde sagen, du und ich, wir sollten The Oaks noch mal einen Besuch abstatten. Was hältst du davon? Einen Überraschungs-Besuch, sodass Lester gar nicht weiß, dass wir kommen.«
»Wann denn?«, wollte Randy wissen.
Jack sah auf seine Rolex. Sie hatte seinem Vater gehört und war immer etwas zu langsam gegangen. Sein Vater hatte behauptet, dass diese Uhr ihn unsterblich machte. Wann immer seine Zeit gekommen war, blieben ihm auf der Rolex immer noch zwei Minuten übrig.
»Es ist jetzt halb neun. Wenn wir uns sofort auf den Weg machen, könnten wir gegen zehn dort sein. Meinst du, dass du so lange wach bleiben kannst?«
Randy senkte den Kopf. »Und du wirst es Lester nicht verraten?«
»Was? Dass du ihn verpfiffen hast? Herrgott, ich bin dein Vater. Und das Gebäude gehört jetzt mir. Na ja, fast jedenfalls. Daniel Bufo hat mein Angebot angenommen; ich muss ihn nur noch ein oder zwei Wochen hinhalten, bis ich die finanziellen Mittel aufgetan habe, dann haben wir es geschafft. Und dann sollte sich im Haus besser kein Lester oder Belfried oder wie auch immer du ihn nennst mehr herumtreiben. Dann habe ich nämlich das volle Recht, ihn rausschmeißen zu lassen.«
»Müssen wir wirklich hingehen?«, jammerte Randy.
Jack zog zwei Dollarscheine aus der Tasche, faltete sie zusammen und legte sie unter seinen Teller. »Eines musst du noch lernen, Randy, und zwar, dich allem zu stellen, was dir Angst einjagt. Ob es nun Ratten sind oder Hunde oder Spinnen. Jetzt musst du dich Lester stellen, wer auch immer er ist, und ihn in die Schranken weisen. Und ich werde dort sein, direkt an deiner Seite, um dich zu unterstützen.«
»Aber er ist …«, setzte Randy an.
»Er ist nichts, mit dem du und ich nicht fertig werden könnten«, unterbrach ihn Jack.
»Er ist in der Wand«, beendete Randy verzweifelt seinen Satz, viel zu leise, als dass Jack es hätte hören können.
Sie waren nach Westen unterwegs, als Jack plötzlich seine Meinung änderte und auf der 76. Straße in die West Good Hope Road Richtung Norden einbog. Die Scheibenwischer schabten mit ihrem Gummi stotternd über die Scheibe. Es regnete zu stark, um sie komplett auszuschalten, aber das Glas wurde doch nicht wirklich nass, sodass sich das Wischen kaum lohnte. Vor ihnen spiegelten sich auf dem Asphalt die scharlachroten Rücklichter anderer Autos wie Auspuffflammen aus Buck Rogers’ Raketenantrieb.
»Dachte, wir können vielleicht noch Karen mitnehmen«, erklärte Jack, der mit nur einer Hand den Wagen lenkte.
Randy nickte. Schließlich blieb ihm sowieso nichts anderes übrig. Wenn sie Karen mitnahmen, bedeutete das, dass er allein nach hinten auf den Rücksitz verbannt wurde. Er starrte aus dem Fenster auf die Läden und Tankstellen und die hell erleuchteten Straßenkreuzungen und vermisste seine Mutter mehr, als er jemals hätte zugeben können – jedenfalls nicht, ohne sofort in Tränen auszubrechen. Und weinen wollte er definitiv nicht.
Jack legte eine Kassette ein. Die Eagles mit Hotel California.
Sie erreichten Karens Haus. Es stand genau an der Ecke einer Seitenstraße, zwei Blocks nördlich der West Good Hope Road. Es war klein und heruntergekommen, erbsengrün angestrichen, konnte eine riesige Antenne auf dem Dach als einziges Prunkstück vorweisen und erinnerte mehr an eine Hütte als an ein vollwertiges Haus. Das Dreirad eines Kindes stand verlassen auf dem Bürgersteig. Als einziges Lebenszeichen flimmerte ein Fernseher hinter den Vorhängen.
Jack sagte: »Warte kurz, Großer. Ich brauche nicht lang!« Randy blieb geduldig im Wagen sitzen. Der Regen trommelte unaufhörlich und hartnäckig gegen die Windschutzscheibe und vernebelte ihm die Sicht. Er glaubte nicht, dass er sich in seinem Leben jemals zuvor so elend gefühlt hatte.
Nach zehn Minuten erschien sein Vater Arm in Arm mit Karen unter dem Vordach. Sie eilten schnell zum Auto, damit sie nicht nass wurden. Ohne die Anweisung abzuwarten, schnallte sich Randy los und kletterte auf den Rücksitz. Sein Vater schien es noch nicht einmal zu bemerken. Karen sprang mit einem kurzen, spitzen Schrei auf den Beifahrersitz und quietschte dann: »Oh Gott, meine Haare!«
»Deine Haare sitzen perfekt!«, versicherte ihr Jack und startete den Motor.
Karen schnallte sich an und drehte sich dann zu Randy um.
»Hi Randy! Was ein Abenteuer mitten in der Nacht, hmm?«
Randy nickte wortlos. »Er ist müde«, erklärte Jack. »Nicht besonders überraschend, so wie die Dinge gelaufen sind.« Er steuerte den Kombi wieder Richtung Süden und hielt auf die 94 zu. »Wenn ich doch nur früher gewusst hätte, wie sich seine Mutter fühlt. Wenn sie es mir nur gesagt hätte, mit mir kommuniziert hätte, weißt du?«
»Na ja, einige Frauen tun das halt nicht«, antwortete Karen, die ihre in schwarzen Netzstrumpfhosen verhüllten Beine übereinandergeschlagen hatte. Ihre goldenen Reifenohrringe reflektierten das Licht der Straßenlaternen, eine orangefarbene Kurve nach der anderen. »Meine Schwester war genauso, sie konnte über solche Dinge nicht reden.«
Jack schielte in den Rückspiegel. »Das Problem ist, dass man, wenn man einen Country Club führt, einfach kommunizieren muss, 24 Stunden am Tag mit den Menschen interagieren. Die Leute gehen an einen solchen Ort, um sich verwöhnen zu lassen, weißt du, wie ich meine? Genau so ist es ja auch, wenn sie einen Auspuff kaufen wollen. Sie wollen kein ›Vielleicht‹ hören oder stundenlang warten, geschweige denn erst am Dienstag wiederkommen. Sie wollen den richtigen Schalldämpfer und sie wollen ihn sofort.«