Karen leckte sich über die Lippen, sodass sie glänzten. »Glaubst du nicht, dass Du-weißt-schon-wer es dir vermasseln könnte?«
Jack zuckte die Achseln. »Ich will ihr doch gar nichts Böses. Glaub mir, ich will ihr um nichts auf der Welt wehtun.«
Sie fuhren auf die 94 und im Regen weiter Richtung Westen. Waukesha, Oconomowoc, Johnson Corner. Die Wegweiser rauschten schemenhaft an ihnen vorbei wie in einer Traumsequenz. Randy legte sich auf dem Rücksitz hin und schloss die Augen. Er hörte das Surren der Reifen auf dem Highway, das kratzende Gummi der Scheibenwischer und das Wusch-wusch des Windes, der gegen das verbeulte Heck blies, dort wo Jack mit dem Baum kollidiert war.
Jack war zwar ebenfalls müde, steckte aber gleichzeitig voller Tatendrang, als ob er zur Abwechslung einmal etwas Positives täte. Wenn es in The Oaks einen Hausbesetzer gab oder einen perversen Sexualstraftäter oder was auch immer, würde er ihn aufscheuchen und ihm eine saftige Tracht Prügel verpassen. Jack war entschlossen, jetzt die Kontrolle über sein Leben und sein Umfeld zu übernehmen. Vielleicht scherte sich Maggie nicht um ihn, doch Karen tat es und Randy auch. Es ging nicht länger um Schalldämpfer und Reifen, sondern um die Durchführung von Umbaumaßnahmen und Börsennotierungen. Herrje, es ging jetzt tatsächlich um Macht.
Bevor sie Madison erreichten, änderte er den Kurs in Richtung Nordost und bog 20 Meilen später links ab nach Lodi. Die Scheinwerfer flackerten im Regen und die Reifen ließen das Wasser aus den Pfützen am Straßenrand aufspritzen.
Schließlich erreichten sie das gusseiserne Tor und Jack parkte direkt davor. Er öffnete die Fahrertür. Der Regen war jetzt nur noch ein leichtes Nieseln. Jack wog das Schloss in seiner Hand. Es war zu massiv, als dass er es gewaltsam hätte öffnen können. Abgesehen davon war es vermutlich ohnehin besser, sich dem Gebäude zu Fuß zu nähern. So konnten sie nachschauen, ob dort jemand herumlungerte, ohne durch den lauten Motor ihr Kommen anzukündigen.
Hier draußen in den nassen Wäldern von Wisconsin, meilenweit weg von jeglicher Zivilisation, erschien ihm die Idee, einen gesellschaftlichen Außenseiter aus einem dunklen, verlassenen Gebäude zu vertreiben, plötzlich nicht mehr ganz so verlockend. Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass dieser Lester ja durchaus bewaffnet sein konnte. Jack hatte ihn sich als herumschnüffelnden, gedrungen umherschleichenden Kinderschänder vorgestellt. Aber was, wenn es nun ein Zweimetermann mit der Statur eines Arnold Schwarzenegger war, der an jeder Seite seines Jackenaufschlags eine Handgranate baumeln hatte und eines dieser riesigen Messer mit sägeartiger Klinge mit sich herumtrug, das Kommandosoldaten benutzten, um ihre eigenen fauligen Füße abzuschneiden?
Karen kam um den Wagen herumgelaufen und stellte sich neben ihn. Sie zitterte in ihrem kurzen, scharlachroten Regenmantel. »Gehst du wirklich rein?«, wollte sie wissen.
Er räusperte sich. »Natürlich gehe ich rein. Willst du vielleicht hier draußen warten?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich warte ganz bestimmt nicht mutterseelenalleine hier draußen.«
»Ich frage mich nur gerade, ob es das wirklich wert ist.«
Jack legte einen Arm um Karens Schulter. Sie gab ihm einen Schmatzer auf die Wange. Er drehte sich zu ihr um und küsste sie auf den Mund. Sie schmeckte nach Pfirsichlippenstift und Salz. Er fühlte, wie das Gewicht ihrer Brüste durch ihren Regenmantel hindurch gegen seinen Arm drückte und erkannte erst jetzt, wie sehr er sie begehrte. Na ja, jedenfalls brauchte.
»Hey, hoppla!«, protestierte sie und löste sich aus seiner Umarmung. Randy war aufgewacht. Seine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Er hatte das Licht im Auto angeschaltet und saß da wie Alfalfa aus Die kleinen Strolche, während er sie feierlich mit blassem Gesicht beobachtete.
»Karen, ähm, warum wartest du nicht einfach hier?«, schlug Jack vor. »Ich schnapp mir eine Taschenlampe und seh mich mal kurz um, okay?«
»Auf keinen Fall!«, widersprach Karen ihm. »Wo auch immer du hingehst, ich bin dabei.«
Randy kletterte ebenfalls aus dem Wagen. Jack ermahnte seinen Sohn: »Hey, Großer, mach die Tür leise zu. Wir wollen niemandem ankündigen, dass wir kommen.«
»Ich habe Durst«, stellte Randy fest.
»Tja, hör mal, wir schauen uns einfach kurz um, damit wir wissen, ob sich hier jemand versteckt und dann schauen wir mal, ob wir noch irgendwo in einem Diner was zu trinken auftreiben, okay?«
»Okay.« Randy nickte.
Jack berührte ihn aufmunternd an der Schulter. »Also gut. Lasst uns gehen. Aber sobald wir jemanden sehen, hauen wir sofort ab, verstanden?«
Jack holte seine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Dann quetschten sie sich einer nach dem anderen durch die Lücke in der Hecke neben dem Tor. Sie pirschten wie Indianer die schattige Allee entlang. Ihre Füße knirschten auf dem Schotter. Karen trug wie üblich ihre Schuhe mit den hohen Absätzen und wäre zweimal fast hingefallen. Jack wartete deshalb, bis sie ihn eingeholt hatte, und bot ihr dann seinen Arm als Stütze an. Randy trottete hinter ihnen her. Den Kragen seines Anoraks hatte er aufgestellt. Er spähte immer wieder nervös zu den Baumreihen hinüber, wo er das kleine Mädchen ohne Gesicht neulich gesehen hatte. Auf ein Wiedersehen hätte er eigentlich gerne verzichtet.
Der Strahl von Jacks Taschenlampe huschte mal hierhin, mal dorthin. Hauptsächlich, um den Kies vor Karens Füßen zu beleuchten, sodass sie sehen konnte, wohin sie lief.
Allmählich zeichnete sich der Umriss von The Oaks vor ihnen ab. Die Türme und Schornsteine ragten düster und geheimnisvoll in den Nachthimmel hinauf. Jack war jetzt nüchtern, völlig klar im Kopf und bereute es zutiefst, dass er sie alle hierher gebracht hatte, wo sie sich doch gemütlich Die Bill Cosby Show anschauen und eine Schüssel frisches Popcorn dazu teilen konnten, anstatt durch die Nacht zu schleichen und sich dabei die Schuhe zu ruinieren.
Sie liefen um das Gebäude herum auf das Gewächshaus zu. Karen nahm das vom Regen glitschig gewordene Dach und die verrottenden Brüstungen in Augenschein und schmiegte sich enger an Jack heran. »Hier ist es total unheimlich, Mann. Dabei habe ich echt schon gruselige Orte gesehen, aber das hier toppt alles.«
Sie erreichten die Tür des Anbaus. Sie war geschlossen. Vermutlich Daniel Bufos Werk. Wenn es ganz dumm lief, hatte er auch abgeschlossen. Jack ertappte sich dabei, dass er sich das insgeheim sogar wünschte. Drinnen sah es sehr finster aus, so dunkel wie unter der Haube eines altmodischen Fotografen. Was sollte er tun, wenn Lester ihre Ankunft bemerkt hatte und ihnen auflauerte?
Seltsamerweise wirkte der riesige Komplex zwar furchteinflößend, übte zugleich aber eine unglaublich starke Anziehungskraft auf Jack aus. Der Bau war ziemlich heruntergekommen und im Inneren befiel ihn stets eine Art Klaustrophobie, doch in den vergangenen vier Tagen hatte er an nichts anderes mehr denken können. Jetzt, wo er wieder hier war, spürte er ein Kribbeln wie beim allerersten Mal, als er es für sich entdeckt hatte. Sich dem Eingang des Gewächshauses zu nähern, fühlte sich an, als hielte er auf dem Dach eines Hochhauses auf den Abgrund zu und verspürte beim Blick in die Tiefe den irrationalen Drang zu springen. Oder als nähme er ein Küchenmesser mit frisch geschärfter Klinge zur Hand, um sich zu fragen, wie es sich wohl anfühlte, damit über die eigene Zunge zu fahren.
Als er den Türgriff berührte, erkannte er, dass er nicht wirklich gekommen war, um nach einem Hausbesetzer namens Lester Ausschau zu halten. Definitiv nicht. Er war hergekommen, weil er ohne das Haus einfach nicht sein konnte.
Jack drehte den Knauf. Mit einem leisen Knarzen schwang die Tür auf.
Willkommen zurück, Jack.
Er atmete tief ein und nahm den eigenartigen Geruch in sich auf, den er als Mischung aus Essig, Staub und Feuchtigkeit bereits kannte. Er war unangenehm und doch seltsam verlockend, ganz ähnlich wie bei Rollmops. Jack suchte das Gewächshaus mit seiner Taschenlampe ab, aber mehr als zerbrochenes Glas und umgeworfene Töpfe konnte er im schmalen Lichtkegel nicht erkennen.