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Jack kletterte wieder ins Wageninnere und startete den Motor. Der Keilriemen quietschte, aber abgesehen davon klang alles noch ganz passabel. Solange ihn der Electra heil zurück nach Milwaukee brachte, hatte er auch kein Problem damit, wenn das Ding Geräusche produzierte wie eine Blaskapelle im Bierzelt.

Gerade als er die Scheibenwischer anstellen wollte, bildete er sich ein, durch den silbrigen Nieselregen, der auf das Glas tröpfelte, etwas gesehen zu haben. Ein weißliches Flimmern im Waldstück zu seiner Rechten. Er betätigte den Wischer und sah erneut in die Richtung, aber da war nichts. Er öffnete die Fahrertür und lehnte sich aus dem Wagen, um mehr erkennen zu können. Da war sie wieder, eine kaum wahrzunehmende Regung, ein verschwommener, grau-weißer Fleck, kein Zweifel.

Mit einem Griff auf den Rücksitz angelte er nach seiner Regenjacke. Da war jemand im Wald, gar keine Frage – jemand oder etwas. Und er hätte es um ein Haar auf dem Gewissen gehabt. Wenn es ein Tier war, konnte er nicht viel tun, außer den Vorfall zu melden. Aber wenn es sich um ein Kind handelte, dann musste er herausfinden, was um alles in der Welt es sich dabei dachte, mutterseelenallein durch den Wald zu rennen.

Jack stieg aus dem Auto, knallte die Tür hinter sich zu und lief die seitlich der Straße verlaufende Böschung hinunter. Sie war von einer dicken Schicht aus nassen, verrottenden Blättern bedeckt, die dafür sorgten, dass er ständig wegrutschte. Als er ebenen Boden erreichte, waren seine Schuhe völlig durchgeweicht und Dornenzweige hatten ihm die Anzughose aus Mohair zerfetzt. Er hielt kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen und sich noch einmal das Gesicht abzuwischen.

»So eine Scheiße!«, murmelte er in sich hinein. Er wusste nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte, sich auf der Suche nach einem Kind, das vermutlich noch nicht mal eines war, allein durch das nasse Gestrüpp zu zwängen. Vermutlich eher eine verdammte Ziege, die irgendwo ausgebüxt war. Er konnte eigentlich genauso gut zurück nach Hause fahren und Santanas Abraxas-Album auf volle Lautstärke aufdrehen, um den quietschenden Keilriemen zu übertönen.

»And I hope you’re feeling better … and I hope you’re feeling good!« Ich hoffe, es geht dir wieder besser … ich hoffe, es geht dir gut!

Er hielt kurz inne, schniefte und warf einen Blick zurück. Hinter sich konnte er oben auf der Bundesstraße gerade noch den dunkelroten Kotflügel seines Kombis ausmachen. Vor ihm ging es weiter abwärts, mitten hinein in eine dunkle, zugewachsene Spalte, die von Dornenzweigen und nassem Farn überwuchert war. Irgendwo sprudelte Wasser, das plätschernde Geräusch eines kleinen Bachs, aber an diesem verregneten Nachmittag ließ das in Kombination mit dem bewölkten, grauen Himmel eher keine Glücksgefühle aufkommen, sondern klang hohl und deprimierend.

Er konnte jederzeit umkehren. Es ist unlogisch, die Mission fortzusetzen, Captain. Selbst wenn es sich bei der grau-weißen Gestalt wirklich um ein Kind handelte, war es ja offensichtlich noch am Leben. Und eine Ziege würde ihm ohnehin davonlaufen, Hügel und Täler erklimmen, für die seine schicken Florsheim-Treter nicht nur ungeeignet, sondern sogar hochgradig gefährlich erschienen.

»Hallo!«, rief er zum letzten Mal. »Ist da jemand?«

Jack begann wieder zu zittern, diesmal vor Kälte. Außerdem musste er dringend pinkeln. Er brachte sich vor einer Ansammlung von Farnen in Position und ließ seinen dampfenden Urinstrahl in den kühlen Nachmittag hineinschießen. Der Druck auf die Blase wollte gar nicht mehr nachlassen. Aber er war noch nicht einmal halb fertig, als er zwischen den Bäumen ganz unten am Fuß der Schlucht plötzlich wieder die grau-weiße Gestalt erblickte, wenn auch nur für eine Sekunde.

»Hey!«, schrie er. »Hey du!« Er zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und begann, der Gestalt hinterherzustolpern. »Hey, Bürschchen, warte mal!«

Der Boden unter seinen Füßen wurde unvermittelt steiler. Drei- oder viermal rutschte Jack aus und musste sich an dornigen Zweigen festklammern, um nicht hinzuschlagen. Dabei riss er sich die Hand auf. Humpelnd und fluchend versuchte er, das Blut wegzunuckeln, während er tiefer und immer tiefer in das enge Tal hineinstolperte.

Du Volltrottel!, schimpfte er mit sich selbst. Es wird Stunden dauern, bis du wieder zum Auto hochgekraxelt bist. Und jetzt ist der Regen auch noch deutlich heftiger geworden. Verdammter Mist!

Er rutschte auf einer Reihe loser Steine aus, klammerte sich an einen Farn, um das Gleichgewicht zurückzuerlangen, und fiel dann mit voller Wucht auf den Rücken.

Scheiße!, wetterte er. Scheiße und noch mal Scheiße!

Unter Schmerzen kam er wieder auf die Beine. Seine Hose war hinten vollkommen durchnässt und mit Matsch verschmiert. Die neuen Schuhe waren ein Fall für die Mülltonne. Seine rechte Hand blutete immer noch und er hatte sich außerdem den linken Ellenbogen aufgeschrammt.

Jetzt reicht’s mir! Ob da jetzt ein Kind ist oder nicht, ich dreh um und mach mich auf den Weg nach Hause.

Jack richtete sich zu seiner vollen Größe auf, atmete tief durch und brüllte: »Bürschchen! Kannst du mich hören? Das war’s! Vergiss es! Wenn du dich verlaufen hast, ist das jetzt dein Problem! Hast du mich verstanden?«

Er lauschte, aber er vernahm nur den Widerhall seiner eigenen Stimme, den Regen und den plätschernden Bach.

»Dummes Kind, verflucht!«, murmelte er in sich hinein. »Verdammtes blödes – was auch immer du bist. Ziege. Scheiße. Wen juckt’s?«

Er wollte gerade mit dem Aufstieg zurück zur Straße beginnen, als er nur etwa 20 Meter über sich am Abhang zu seiner Linken den vertrauten grau-weißen Schemen entdeckte. Er bewegte sich nicht, rannte nicht, sondern stand einfach mit gesenktem Kopf zwischen dem Farn, der im Wind wogte. Jack hielt inne und starrte die Erscheinung an. Seine Zähne klapperten vor Kälte. Diesmal verspürte er nicht den Drang, laut zu rufen.

»So, jetzt hab ich dich, du Bastard!«, murmelte er und bahnte sich den Weg nach oben durch Farn und Dornengestrüpp. Diesmal verharrte die Gestalt in ihrem gräulich-weißen Regenmantel an Ort und Stelle. Sie hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und stand mit gekrümmten Schultern einfach da. Irgendwie seltsam, dass sie sich nicht zu ihm herumgedreht hatte, fand Jack. Oder dass sie sich überhaupt nicht rührte. Sie musste ihn doch schließlich gehört haben. Er preschte den Hügel hinauf und ging dabei ähnlich subtil ans Werk wie General Patton im Zweiten Weltkrieg mit seiner dritten Panzerdivision.

Fast hatte er die Gestalt erreicht. Sie bewegte sich immer noch nicht, sondern stand ganz still neben einem zweigliedrigen Stacheldrahtzahn, der diagonal ins Tal führte. Es war definitiv ein Kind, kein Tier. Aber er erkannte, dass es auf merkwürdige Weise entstellt zu sein schien und einen kleinen Buckel besaß. Zum ersten Mal verspürte Jack ein ziemlich ungutes Gefühl im Magen.

»Hey Bürschchen!«, rief er schroff, aber mehr aus Unsicherheit als tatsächlich verärgert. »Hey, du bist dran schuld, dass wir beide da oben auf der Straße beinahe den Löffel abgegeben hätten.«

Noch immer blieb das Kind, wo es war, verharrte ganz dicht am Zaun. Schließlich tat Jack einen Schritt darauf zu, musste sich aber am Stacheldraht festhalten, um nicht erneut den Hügel hinabzuschlittern.

Erst als er das Kind schon fast berühren konnte, wurde ihm klar, dass es keins war. Es war noch nicht mal ein Tier. Er griff nach der »Kapuze« und zog sie vom Zaun weg. In seiner Hand hielt er lediglich eine völlig durchnässte Ausgabe des Milwaukee Sentinel vom vergangenen Sonntag. Irgendwie hatte sie der Wind aufgefächert und gegen einen der Zaunpfosten geblasen, wo sie in ihrer bizarren Form verdächtig nach einem Kind mit Kapuze aussah.