Seine Finger tasteten nach dem Holzgeländer. Das erste Mal verfehlte er es, doch dann streckte er sich bis zum Äußersten und es gelang ihm, sich mit den Fingerspitzen an der untersten Wandhalterung festzuhalten, an der das Geländer befestigt war. Er dehnte sich weiter, bis er es endlich schaffte, seinen Griff zu fixieren.
Karen schrie: »Jack! Jack!«, doch der Schmerz in seinen Füßen brachte ihn an den Rand einer Ohnmacht, sodass er sie kaum hören konnte.
Er trat immer und immer wieder um sich. Einen Moment lang lockerte sich der Griff um einen seiner Knöchel. Er bekam den rechten Fuß frei und schlug nach der Hand, die seinen linken festhielt. Die staubige, graue Fratze grinste jetzt noch irrer, als ob ihr der Kampf unbändigen Spaß bereitete, als ob sie sich an dem Schmerz regelrecht aufgeilte. Dann öffnete sie ihren Mund weit und stieß einen Laut aus, der Jack bis ins Mark erschütterte.
Es klang wie der gleichzeitige Schrei von 300 mit einem Flugzeug abstürzenden Menschen. Wie eine U-Bahn, die auf altertümlichen Gleisen quietschend aus einem Tunnel brauste. Es klang nach entsetzlicher Angst, grenzenloser Wut und erbärmlicher Qual.
»Jack!«, kreischte Karen, deren Stimme durch den ohrenbetäubenden Lärm trotzdem kaum hörbar war.
Indem er mit dem rechten Fuß um sich trat, konnte sich Jack von den Händen befreien, die ihn festhielten. Er rollte sich von seinem Angreifer weg und stolperte erneut die Kellertreppe hoch, wobei er sich übel das Knie aufschlug. Karen schlang die Arme um ihn und half ihm so schnell sie konnte durch die Kellertür. Sie wollte schon aus dem Haus rennen, doch Jack hielt sie zurück: »Warte, langsam, warte!« Er schlug die Kellertür zu und drehte den Schlüssel herum.
»Das sollte ihn etwas aufhalten«, keuchte er.
»Aber er kam direkt aus dem Boden!«, kreischte Karen panisch. »Er kam direkt aus dem Boden!«
Jack zitterte. Er wusste nicht, wo er sich befand, geschweige denn, ob er ausharren oder wegrennen sollte. Er war sich auch nicht sicher, ob er rennen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Sein ganzer Körper kam ihm völlig unkoordiniert vor. Karen stand ein Stück entfernt und hatte die Arme eng um ihre Brust geschlungen. Angst und Unsicherheit standen ihr ins Gesicht geschrieben.
»Das war wohl das, was Randy gemeint hat«, sagte er, doch seine Stimme klang noch nicht mal wie er selbst. »Du weißt schon, Lester.«
»Aber wie konnte er aus dem Boden kommen? Wie konnte er das?«
Jack schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber er wollte mich auch hineinziehen. Zumindest hat er das versucht. Ich konnte es an meinen Füßen spüren, den Schmerz, meine ich. Ich habe noch nie zuvor solche Schmerzen gehabt. Und er wollte mich wirklich in den Boden zerren.«
»Das ist unmöglich!«, widersprach ihm Karen.
»Natürlich ist es unmöglich! Mit Logik nicht zu begreifen und wissenschaftlicher Unsinn. Menschen können nicht durch Wände gehen und auch nicht … aus dem Boden wachsen.«
»Was sollen wir bloß tun?«, wollte Karen von ihm wissen. »Meinst du, dass er Randy erwischt hat?«
Jack lehnte sich gegen die Kellertür und kniff die Augen zusammen, doch er konnte trotzdem nicht vermeiden, dass ein grünlich-graues, zementfarbenes Gesicht vor ihm auftauchte. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was es mit Randy angestellt haben konnte.
»Jack, wenn er Randy erwischt hat …«, begann Karen.
Jack öffnete die Augen wieder. »Ich bete einfach zu Gott, dass das nicht der Fall ist. Weißt du, wie stark dieses Ding war? Randy hätte nicht den Hauch einer Chance, sich dagegen zu wehren.«
»Also was sollen wir tun?«
»Ich weiß es nicht. Die Polizei rufen, würde ich sagen.« Er wünschte sich, dass sein Zittern am ganzen Körper endlich aufhörte.
Randy, mein armer Randy! Ich bete zu Gott, dass das Ding dich nicht erwischt hat; und ich bete zu Gott, dass du wenigstens nicht leiden musstest, falls doch.
Nach einer Weile gelang es Jack, sich ein wenig zu beruhigen. »Also komm!«, sagte er zu Karen, schniefte und räusperte sich. »Lass uns zu diesem Telefon fahren. Mehr können wir alleine ohnehin nicht ausrichten.«
Sie gingen durch die Halle in die Lounge und auf das Gewächshaus zu. Als sie sich ihren Weg zwischen den Lesetischen im Aufenthaltsraum hindurch bahnten, glaubte Jack, wieder dieses seltsame Schleifgeräusch zu hören. Sssssschhhhhhh – ssssssschhhhhhh – ssssschhhhhh! raste es die Wand entlang.
»Hör mal!«, befahl er Karen und legte ihr die Hand auf den Arm. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das Geräusch erstarb, als ob jemand ihnen gefolgt wäre und nun darauf wartete, dass sie weitergingen. Jemand, der mit angehaltenem Atem in seinem Versteck lauerte und sie beobachtete.
»Lass uns einfach hier abhauen!«, drängte ihn Karen.
»Nein, warte. Hör mal hin. Kannst du etwas hören?«
»Ich kann nichts hören und ich will auch nichts hören. Oh Gott, Jack, ich habe solche Angst.«
Doch Jack stand ganz reglos da. Der Regen tropfte durch die zerbrochenen Scheiben des Gewächshauses und benetzte die Lorbeerbüsche im dunklen Garten. Doch da war noch etwas anderes zu hören, ganz leise und unscheinbar; wie uralter Putz, der durch die mit den Jahren steif gewordene Tapete rieselte, wie jemand, der sich hinter einem Vorhang versteckte und dabei nicht zu atmen wagte.
Jack drehte sich ganz langsam um. In der Empfangshalle war es so dunkel, dass man die Hand kaum vor Augen sehen konnte. Rattansessel, umgefallene Tische. Zeitschriftenständer voller vergilbter Zeitungen. Das bekannte Bild. Doch zwischen dem Bücherregal und der Tür glaubte er, eine Art Klumpen auf der cremefarben gestrichenen Wand zu erkennen.
»Jack!«, flehte Karen. Sie war inzwischen so verängstigt, dass sie sich schon fast in einer Schockstarre befand.
Schweigend trat Jack drei oder vier langsame Schritte auf die Tür zu und starrte die ganze Zeit auf die klumpige Kontur an der Wand. Für eine Taschenlampe mit frischen Batterien hätte er in diesem Moment sein letztes Hemd gegeben.
»Jack, bitte!«, flehte Karen erneut.
»Hast du Streichhölzer dabei?«, fragte Jack sie. Sein Mund war so trocken, dass er nur noch flüstern konnte.
»Streichhölzer?«
»Ja, Streichhölzer. Mit denen man Zigaretten anzündet.«
»Ich glaube, ich habe ein paar in meinem Geldbeutel, aber den habe ich im Auto gelassen.«
Jack machte noch einen Schritt in Richtung Tür, aber er wollte nicht zu dicht an die Öffnung herantreten. Seine Knöchel waren immer noch wund von der Umklammerung der Hände, die ihn im Keller erwischt hatten.
Karen wühlte in den Taschen ihres Regenmantels. »Ich hab noch ein paar Zündholzbriefchen gefunden.«
»Wunderbar, das ist perfekt.« Jack langte hinter sich, um die Streichhölzer in Empfang zu nehmen, ohne dabei den Blick von der Wand abzuwenden. Er öffnete das Briefchen, bog die Streichhölzer zurück und entzündete alle auf einmal. Sie loderten hell auf. Jack hob das Zündholzheftchen und hielt es in die Luft, so hoch wie er nur konnte.
Im kurzen, flackernden Feuerschein erkannte er, dass die cremefarbene Wand tatsächlich nach vorne ausgebeult war, und zwar in Form einer nackten jungen Frau. Sie hatte breite Hüften, dralle Brüste, enge Schultern und ein Gesicht, das afrikanisch wirkte. Ihr Haar stand von ihren Kopf ab wie Sonnenstrahlen.