Bei Tageslicht wirkte Joseph Lovelittle noch einmal deutlich älter und verwahrloster. Er erwartete sie im Windschatten des Gewächshauses. Den Kragen seiner Feuerwehrjacke hatte er hochgestellt. Sein Dobermann Boy saß neben ihm und zitterte wie im Fieber. Der Himmel war relativ klar, wenn auch immer noch grau, und der Regen prasselte herunter wie Wasser aus einem Springbrunnen. Ihre Schuhe knirschten auf dem Kies.
»Aha«, schnaubte Joseph Lovelittle. »Ich dachte schon, Sie würden gar nicht kommen.«
»Ich suche nach meinem Sohn«, erinnerte ihn Jack mit ernster Miene.
»Das tun Sie, das tun Sie.« Joseph Lovelittle wandte sich der Tür des Anbaus zu. An der Spitze seiner gebogenen Nase hing ein Tropfen durchsichtiger Rotz. »Sind Sie hier das letzte Mal reingegangen? Manchmal ist da abgeschlossen, manchmal auch nicht.«
»Schließen Sie ab?«, wollte Jack wissen.
Joseph Lovelittle drehte sich in seine Richtung um, ohne die Schultern nachzuziehen. Das sah ziemlich beunruhigend aus. »Manchmal ja, manchmal nein.«
Der alte Mann schwang die Tür auf. Jack fragte: »Wer schließt ab, wenn Sie es nicht tun? Daniel Bufo?«
»Manchmal.«
»Und wer noch?«
Joseph Lovelittle sah ihn aus seinen blassblauen Augen herausfordernd an.
»Was glauben Sie?«
Sie betraten das Gewächshaus. Joseph Lovelittle atmete mühsam tief ein. »Sie hätten das hier mal sehen sollen, damals 1925. Tropische Pflanzen, Kakteen, wie Sie die Welt zuvor noch nicht gesehen hatte. Dr. Estergomys ganzer Stolz.«
»Wer war Dr. Estergomy?«
Joseph Lovelittle wandte sich wieder zu Jack um und starrte ihn an.
»Sie wollen dieses Haus kaufen und kennen Dr. Estergomy nicht?«
»Sollte ich ihn denn kennen?«
Joseph Lovelittle dachte darüber nach und zuckte dann die Achseln. »Vermutlich nicht, wenn man genauer darüber nachdenkt.«
»Aber wer war er denn?«, wollte Karen wissen.
»Sie wissen, dass das hier ein Heim war? Das hat Ihnen Mr. Bufo doch bestimmt erzählt?«
»Das stimmt. Pflegeheim The Oaks, so hat er es gesagt.«
»Nun … Estergomy war der Chefarzt. Wissen Sie, was ich meine? Der absolute Herr im Haus.«
»Alles klar«, antwortete Jack. »Und dieses Gewächshaus hier …«
Joseph Lovelittle lächelte ihn geduldig an, als wäre er etwas schwer von Begriff.
»So ist es, Mr. Reed; Sie haben es verstanden. Dr. Estergomys ganzer Stolz.«
»Sie erinnern sich daran?«, erkundigte sich Jack, während er auf die verwelkten Blätter, das zerbrochene Glas und die kaputten Blumentöpfe blickte.
»Klar. Ich fing 1923 an, hier zu arbeiten. War damals zwölf Jahre alt. Ich putzte, spülte Geschirr, half hier und da. Mädchen für alles, könnte man sagen. Ich las den Patienten auch Geschichten vor, zumindest denen, die was damit anfangen konnten.«
Er nahm seinen Hut ab und seine Augen wirkten blasser denn je.
»Dr. Estergomys ganzer Stolz. Er baute hier drin sogar Trauben an. Kleine, grüne Trauben. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich im Sommer immer hier reingeschlichen habe, um sie zu klauen.«
Der Alte öffnete die Tür zum Salon und ließ Karen und Jack eintreten. Boy, der Dobermann, fuhr mit seinem Maul hinten an Karens Rock hoch. Sie herrschte ihn an: »Hau ab, Kaltschnauze!« Joseph Lovelittle lachte und zwinkerte ihr zu.
Sie betraten die Halle. Der Alte knöpfte seinen Regenmantel auf und hängte ihn übers Geländer. Darunter trug er eine schlabbrige orangefarbene Strickweste und eine Jeans, die an seinen dürren Beinen herumschlotterte.
»Am besten wir fangen auf dem Dachboden an und arbeiten uns von dort nach unten vor.« Er hielt einen Bund mit einem halben Dutzend merkwürdig geformter Schlüssel hoch. »Das sind Generalschlüssel, einer für jede Etage.«
Sie erklommen die Stufen bis zum Dachboden. Auf dem Weg sagte Joseph Lovelittle: »Als dieses Haus Mr. Krüger gehörte, nannte man es das Labyrinth. Niemand wusste genau warum, denn es gab gar kein Labyrinth. Deshalb änderte Dr. Estergomy den Namen, als er es übernahm. Dr. Estergomy war ziemlich praktisch veranlagt. Ihm gefiel es nicht, wenn sich etwas nicht erklären ließ.«
»Wann wurde das Heim geschlossen?«, fragte Jack. »Ich habe ein paar Zeitungen im Salon gesehen, die von 1926 stammten.«
»Genau, das stimmt. Am 25. Juni 1926. Um 23:30 Uhr.«
Jack sah stirnrunzelnd in Karens Richtung hinüber. »Das ist eine sehr merkwürdige Zeit, um ein Heim zu schließen, 23:30 Uhr.«
Sie waren im zweiten Stock angelangt. Joseph Lovelittle ließ seinen Dobermann von der Leine, der sofort die Treppe hinaufflitzte. Seine Pfoten kratzten dabei über das Linoleum. »Wenn Ihr Sohn hier irgendwo ist, Mr. Reed, können Sie darauf wetten, dass Boy ihn aufspürt.«
»Und er wird ihm nicht wehtun?«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mr. Reed? Dieser harmlose Köter?«
Sie hörten, wie Boy den ganzen Weg zum Dachboden hoch wie wild tollte. Dort angekommen, bellte er zweimal vernehmlich, um ihnen mitzuteilen, dass er das Ziel erreicht hatte. Sie trabten hinter ihm her. Joseph Lovelittle war ziemlich außer Atem und musste immer wieder Pausen einlegen. Seine Augen traten hervor und Luft strömte pfeifend in seine Lungen und entwich dann wieder ähnlich geräuschvoll. »Als ich noch jünger war, rauchte ich 100 Zigaretten am Tag. Ich wünschte bei Gott, ich hätte es nicht getan.«
»Haben Sie hier schon mal ein kleines Mädchen spielen sehen? Eines, das eine Art weißen Regenmantel mit Kapuze trug?«, erkundigte sich Jack.
Joseph Lovelittle hielt einige Schritte vor dem Treppenende jäh inne, atmete schwer und starrte ihn an. »Ein kleines Mädchen? Ganz allein, meinen Sie?«
»Genau. Nicht älter als sechs oder sieben Jahre, würde ich mal schätzen.«
Joseph Lovelittle schnaubte. »Was sollte ein Kind in diesem Alter ohne seine Eltern hier draußen tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich wollte nur wissen, ob Sie es gesehen haben. Oder ihn. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Mädchen ist.«
»Tja, Mr. Reed, die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen.«
»Nein, vermutlich nicht.«
Joseph Lovelittle holte seinen Schlüsselbund hervor und begann, die Türen zu öffnen, eine nach der anderen. Er ließ sie offen stehen. Jack und Karen folgten ihm und spähten in jeden Raum hinein. Die meisten waren völlig leer, doch in einigen standen noch Betten und Nachttische. In einem Zimmer entdeckten sie sogar eine Pinnwand aus Kork, an der Postkarten hingen, außerdem ein zusammengerolltes Aktfoto, das Eine Ägyptische Huri, 1926 zeigte.
Karen rollte das Pin-up auf und lächelte. »Sexy, was?«
Sie gingen weiter. Joseph Lovelittle sagte: »Noch keine Spur. Boy bellt immer wie verrückt, wenn er Witterung aufnimmt.«
Jack sah in ein weiteres verwaistes Zimmer. »War das hier eine private Einrichtung? Oder gehörte sie dem Staat?«
»Sie war privat, aber Dr. Estergomy wurde vom Bundesstaat Wisconsin für einige der Patienten bezahlt.«
»War sie immer gut belegt?«
»Oh, sicher, sie war immer gut belegt. Brechend voll. In der Nacht, als sie schloss, hatten wir 137 Patienten.«
»Estergomy muss ein ziemlich guter Arzt gewesen sein.«
»Na ja, sicher. Er hatte all diese neumodischen Behandlungsmethoden. Zumindest waren sie das 1926. Heutzutage sind sie sicher genauso antiquiert wie ich.«
Sie erreichten das Ende des Dachbodens, doch von Randy keine Spur. »Lassen Sie es uns ein Stockwerk weiter unten versuchen«, schlug Joseph Lovelittle vor und suchte den passenden Generalschlüssel heraus.