Du Narr!, schalt ihn die Statue. Und in diesem Moment hörte Jack Randys Stimme. Sie klang unnatürlich hoch und gurgelte, als würde er versuchen, unter Wasser zu schreien. Randys Kopf schoss aus dem schwarz-weißen Marmorboden hervor, dann seine Schultern, seine Arme und schließlich seine Hüfte, als ob der Junge in einem flachen See stand.
Daddy!, rief er und hob beide Hände, um auf sich aufmerksam zu machen. Daddy, rette mich!
»Randy! Halt durch!«, schrie Jack und rannte durch die Halle auf ihn zu. Doch bevor er Randys ausgestreckte Hände ergreifen konnte, versank sein Sohn wieder im Marmorboden, als ob ihm jemand die Beine weggezogen hätte.
Jack fiel auf die Knie und hämmerte mit seinen bloßen Fäusten verzweifelt auf das Kalkgestein ein. Es war hart, glatt und kalt – und gab keinen Zentimeter nach.
»Lasst ihn gehen!«, brüllte er den Boden an. »Ihr Dreckskerle! Ihr Dreckskerle! Lasst ihn gehen!«
Es kam keine Antwort. Nach einigen Minuten, die ihm sehr lange vorkamen, wischte sich Jack die Tränen aus den Augen, stand auf und ging wieder zur Statue zurück. Ihre Augen waren wieder geschlossen und sie rührte sich nicht.
»Welcher Priester?«, fragte er erschöpft und bekümmert. »Welcher Priester, verdammt noch mal?«
Doch die Statue schwieg. Im Haus war es still. Die Menschen aus der Wand hatten ihm ihre Lösegeldforderung mitgeteilt und auf die eine oder andere Art musste er selbst herausfinden, welcher Priester der richtige war.
Jack machte sich auf den Rückweg. Gerade als er die Halle verlassen wollte, ging die Kellertür auf. Überrascht wich er einen Schritt zurück.
Boy, der Dobermann, trottete ihm entgegen. Ein Klicken und Klacken ertönte, als das Tier auf dem gefliesten Boden auf ihn zuhielt. Es trug etwas im Maul.
»Boy … guter Junge … was hast du denn da?«
Der Dobermann legte das Objekt, das er trug, vorsichtig zu Jacks Füßen ab und sah ihn dann flehentlich an, als ob sein Leben davon abhinge, dass Jack jetzt Hol das Stöckchen! mit ihm spielte.
Jack sah sich das Ding zu seinen Füßen genauer an. Es war blau-weiß und glänzte und an jedem Ende befanden sich ein paar rote Knorpelstücke. Es war einer von Joseph Lovelittles Hüftknochen.
»Also keine Polizei?«, erkundigte sich Karen, während sie ihren Rock hochzog, um bequemer zu sitzen.
»Keine Polizei. Noch nicht. Ich will ihnen erst einen Priester suchen.«
»Aber sie haben dir doch gar nicht gesagt, welchen Priester sie wollen.«
»Keine Ahnung. Vielleicht irgendeinen. Wer weiß. Wir müssen es einfach herausfinden.«
»Jack … ich muss zurück nach Hause. Bessy wird sonst an die Decke gehen.«
Sie erreichten die Hauptstraße. Jack sagte: »Klar. Tut mir leid. Ich hätte dich gar nicht erst überreden dürfen, mit uns mitten in der Nacht hier rauszufahren.«
Karen beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange. »Ich bin mitgekommen, weil ich es wollte.«
Jack küsste sie auf den Rücken und drückte ihren Oberschenkel. »Weißt du was? Ich hätte dich ein paar Jahre früher kennenlernen sollen.«
»Wenn du meinst …«, erwiderte Karen, aber es war offensichtlich, dass sie sich über diese Aussage freute. Vielleicht, nur vielleicht, wenn Randy wieder in Sicherheit war …
Er fuhr sie nach Madison. Es sah idyllisch aus, als der Lake Mendota mit dem grauen Himmel vor ihnen auftauchte. Wie ein Postkartenmotiv. Studenten radelten durch die nassen Straßen. Sie hielten sich ihre Umhängetaschen als Regenschirmersatz über den Kopf. Im Zentrum rief Jack Karen ein Taxi und reichte dem Fahrer 75 Dollar, damit er sie zurück nach Milwaukee fuhr. »Du«, sagte er zu Karen, »ich ruf dich später an, okay? Richte Mike bitte aus, dass ich mich heute Abend bei ihm melden werde. Sag ihm, dass ich Familienangelegenheiten zu erledigen habe.«
»Na ja, damit tischst du ihm ja nicht mal eine Lüge auf!«, erwiderte Karen. Mit kalten Lippen küsste sie ihn durch das halb geöffnete Taxifenster. Keiner von beiden traute sich »Ich liebe dich!« zu sagen, nicht solange Randy immer noch verschwunden war und das Leben so bedrohlich und befremdlich schien.
Jack sah zu, wie das Taxi wegfuhr, und ging dann über die Straße zur Buchhandlung, um sich eine Tasse Kaffee zu gönnen und einen Donut zu essen. Im Laden wimmelte es von Studenten, die rauchten, sich unterhielten und lachten. Jack setzte sich alleine an einen Tisch und zwang sich, seinen Donut zu essen, obwohl er sich nicht wie Essen anfühlte, sondern wie dickflüssiger, vertrockneter Kleber. Eine hübsche Studentin mit hüftlangen blonden Haaren und einer Brille mit Drahtgestell kam zu ihm herüber und erkundigte sich, ob es ihm gut ging.
Er hob den Kopf. »Klar geht’s mir gut. Stimmt was nicht?«
Sie lächelte ihn an. Sie war so jung, dass sie fast schon seine Tochter hätte sein können. »Sie weinen, deshalb. Haben Sie das gar nicht bemerkt?«
Jack tastete nach seinen Augen und war überrascht, als er feststellte, dass ihm tatsächlich Tränen über die Wangen liefen. Er sagte nichts, sondern kramte sein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. Das Mädchen betrachtete ihn noch eine Weile besorgt und verließ dann den Laden.
Capitol Realtors war nicht schwer zu finden. Der Makler hatte sein Quartier nur zwei Blocks vom Buchladen entfernt in einem eleganten kleinen Bürokomplex mit getönten Scheiben, Klimaanlage und einer von Bäumen gesäumten Vorhalle mit Mosaikboden bezogen. Daniel Bufo saß an seinem Schreibtisch und frühstückte, als Jack in sein Büro geführt wurde. Er gönnte sich zwei riesige Plunderteilchen mit Zitronenfüllung und eine heiße Schokolade. Auf der Tasse prangte das Logo der Green Bay Packers, eines Football-Teams aus Wisconsin. Er schob die Teilchen auf ein herumliegendes Exposé und ließ es vorsichtig in der obersten Schublade seines Schreibtischs verschwinden.
»Lassen Sie sich von mir nicht stören!«, sagte Jack.
Daniel Bufo wischte mit der Hand die Krümel von seinem Notizblock. Hinter ihm konnte man durch die Jalousien ganz deutlich ein anderes Bürogebäude erkennen, in dem ein Mann sich ein hitziges Wortgefecht mit seiner Sekretärin lieferte. Auf Daniel Bufos Schreibtisch stand eine gerahmte Tafel, die ihn als besten Immobilienmakler von Madison im Jahr 1975 auswies.
»Hab nicht mit Ihnen gerechnet!«, begrüßte ihn Daniel Bufo mit einem breiten, doch gleichzeitig nicht besonders überzeugenden Lächeln.
»Ich benötige ein paar Informationen!«, ließ Jack ihn wissen. Es war unübersehbar, dass Daniel Bufo an seiner äußeren Erscheinung Anstoß nahm. Jack war unrasiert, seine Kleidung völlig zerknittert und er machte einen übernächtigten Eindruck.
»Wie wär’s mit einer Tasse Schokolade?«, bot Daniel Bufo ihm an. »Es ist belgische – so nahrhaft wie eine ganze Mahlzeit.«
Jack lehnte dankend ab. »Ich will nur ein paar Hintergrundinformationen, mehr nicht.«
»Über The Oaks? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es da nicht viel zu erzählen gibt. Das Haus steht seit 1926 leer.«
»Und damals war es ein Irrenhaus.«
»Ah!«, machte Daniel Bufo und rieb sich die Wange.
»Na es stimmt doch, oder nicht? Es war ein Zuhause für geistesgestörte Kriminelle.«
Daniel Bufo nahm einen Kugelschreiber und drehte ihn zwischen seinen dicken Fingern. »Es war ein Pflegeheim, sicher.«
»Eine Irrenanstalt. Eine Klapsmühle.«
»Na gut, es war ein Irrenhaus. Aber ich verstehe nicht, was das für einen Unterschied macht. Es wurde seit über 60 Jahren nicht mehr bewohnt. Und Sie werden doch den Namen ohnehin ändern, oder?«
»Ich muss wissen, wo ich die Eigentümer finde«, platzte Jack heraus.
»Ich glaube nicht, dass sie das gutheißen würden, Mr. Reed, bei allem Respekt. Sie leben, nun ja, sehr zurückgezogen. Ich denke, das habe ich Ihnen deutlich zu verstehen gegeben.«