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»Kommt rein! Helena, meine Liebe! Ich habe mich so über deinen Anruf gefreut. Es ist viel zu lange her!«

Olive geleitete sie in ein Wohnzimmer, in dem hochwertige, allerdings schlecht aufeinander abgestimmte Möbel standen. Eine französische Chaiselongue, die mit grün gemusterter Seide gepolstert war, ein brauner Ledersessel und verschiedene Tische in allen erdenklichen Formen und Größen. An der Wand hingen grelle Aquarelle mit den größten Seen Wisconsins, eingerahmte Zeugnisse und Ehrendiplome. Jack beugte sich über die Couch, um eines der Diplome genauer zu inspizieren. Es handelte sich um eine Ehrendoktorwürde in klinischer Psychologie der Universität von Edinburgh, die am 12. März 1921 an Elmer J. Estergomy verliehen worden war.

Ein Feuer glomm schwach im Kaminrost. Olive Estergomy stocherte mit dem Schürhaken darin herum und erklärte dann: »Das Holz ist noch viel zu feucht.«

»Ich bin Jack Reed«, stellte sich Jack vor. »Ich bin derjenige, der sich für The Oaks interessiert.«

»Ich verstehe«, antwortete Olive Estergomy. Sie bedachte ihre Freundin mit einem fragenden Blick, während sie ihre lange Bernsteinkette zwischen den Fingern drehte. »Wie haben Sie Miss Manfield kennengelernt?« Als sie die Frage stellte, ließ sie durchklingen, dass sie davon ausging, Helena und er hätten sich gegen sie verschworen.

»Olive, wir haben uns im Archiv der Times kennengelernt. Es war purer Zufall«, erklärte ihr Helena. »Ich habe Ausrisse für den Pressespiegel aufgeklebt und Mr. Reed suchte zur selben Zeit nach Artikeln über The Oaks.«

»Ihre Pläne beeindrucken mich sehr, Mr. Reed«, sagte Olive Estergomy. »Ich würde das alte Gebäude gerne restauriert sehen.«

»Hat sich Mr. Bufo mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«, erkundigte Jack sich.

»Er hat mir Ihren Preis genannt und ich habe ihn akzeptiert.«

»Hat er Sie heute angerufen?«

Olive Estergomy lehnte sich an den Kamin und vermittelte den Eindruck einer Sportlehrerin, die am liebsten eine Übung vorturnen würde. »Heute nicht, nein. Stimmt etwas nicht?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich Sie treffen muss. Und dass ich das Geschäft platzen lasse, wenn er sich nicht darum kümmert.«

Olive Estergomy ließ sich mit einer langsamen Bewegung auf das Sofa herabsinken. Das Feuer begann zu knistern und prasselte. »Mr. Bufo hat kein Wort davon gesagt. Kein einziges Wort.«

»Ich hatte zudem betont, dass es ausgesprochen dringend ist«, ergänzte Jack.

»Vielleicht hat er gedacht, dass es mich beunruhigen würde. Und tatsächlich bin ich in diesem Moment einigermaßen beunruhigt. Aus welchem Grund wollten Sie mich denn unbedingt sehen?«

Jack vollführte mit seiner linken Hand das alte britische Fingerspieclass="underline" Hier ist die Kirche, hier ist der Turm, öffne die Türe …

»Miss Estergomy, ich muss wissen, was in der Nacht geschehen ist, in der The Oaks geschlossen wurde.«

Olive Estergomy starrte Jack ausdruckslos an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr linkes Augenlid zuckte, ein dauerhaftes Signal unterdrückter Nervosität. »Nichts ist geschehen. Wir haben das Heim geschlossen, weiter nichts.«

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Es gab nicht mehr genügend Patienten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, das ist alles. Es waren rein wirtschaftliche Gründe.«

Jack zückte sein Taschentuch und wischte sich die Nase ab. »Mir wurde aber gesagt, dass am Tag der Schließung 137 Patienten eingewiesen waren. Mehr als je zuvor.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Joseph Lovelittle, der Hausmeister.«

»Oh, er. Ich hoffe doch, Ihnen ist bewusst, dass Joseph selbst lange Zeit zu unseren Patienten zählte?«

»Er war sich seiner Sache aber ziemlich sicher und macht inzwischen einen ausgesprochen stabilen Eindruck.«

Olive Estergomy senkte den Blick und antwortete nicht.

»Miss Estergomy …«, begann Jack. »Mein neun Jahre alter Sohn ist spurlos verschwunden. Ich habe ihn gestern Abend nach The Oaks mitgenommen und seitdem ist er weg. Ich bin ungeheuer verzweifelt.«

»Sie haben ihn nach The Oaks gebracht?«, erkundigte sich Olive Estergomy ungläubig.

»Miss Estergomy, etwas stimmt nicht mit dem Gebäude. Ich habe es selbst erlebt. Geräusche, Stimmen, Halluzinationen.« Er sagte nichts weiter, denn er wollte ihr nicht den Eindruck vermitteln, dass er selbst reif für die Klapsmühle war.

Olive Estergomy sagte lange Zeit überhaupt nichts. Dann schien sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben und eröffnete ihm: »Sie sind verschwunden. Alle miteinander.«

Jack verstand nicht ganz. »Wer ist verschwunden, Miss Estergomy?«

Sie sah auf. »Die Patienten natürlich. Und zwar lückenlos. Erst waren sie noch alle da – und im nächsten Moment waren sie weg.«

Sie schwieg abermals sehr lange. Eine Minute, mehr als eine Minute.

»Können Sie mir erzählen, was genau passiert ist?«, drängte Jack. Es war kaum zu übersehen, dass die Erinnerung an die Vorfälle die alte Frau nach wie vor sehr stark aufwühlte.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir saßen an dem Abend zusammen im Salon, als einer der Pfleger an die Tür klopfte – er schrie hysterisch und machte einen extrem verängstigten Eindruck. Er eröffnete uns, dass die Patienten entkommen waren. Natürlich konnte mein Vater es nicht glauben. Doch als wir in den zweiten Stock hinaufgingen, stellten wir fest, dass jedes einzelne Krankenzimmer leer stand.«

Helena Manfield setzte sich ebenfalls. »Olive«, rief sie. »Das hast du mir nie erzählt.«

»Niemand hätte es mir geglaubt, meine Liebe, nicht einmal du.«

»Aber wenn all die Verrückten entkommen wären …«

»Sie sind spurlos verschwunden, aber nicht entkommen. Sie haben jedenfalls nicht ihre Türen geöffnet oder sind aus den Fenstern geklettert. Jeder einzelne Raum war nach wie vor verriegelt, ein Öffnen von innen aufgrund des speziellen Mechanismus unmöglich. Auch die Fenster wiesen keine Beschädigungen auf, keine einzige Glasscheibe gesplittert. Im Foyer fanden wir lediglich halb geleerte Tassen mit heißem Kaffee vor, auf dem Boden lagen heruntergefallene Zeitungen. Als ob sie sich alle von einem Moment auf den nächsten in Luft aufgelöst hätten.«

»Aber wenn es über hundert waren, wo sind sie dann hin?«, erkundigte sich Helena Manfield ungläubig.

Olive Estergomy schüttelte den Kopf. »Bis heute weiß ich es einfach nicht, Helena. Mein armer Vater wurde auf der Suche nach ihnen bald selbst verrückt. Wohin mochten sie nur gegangen sein? Er rief die Polizei und die fand natürlich die Türen verschlossen und die Fenster unberührt vor. Also dachten sie, dass mein Vater einen Zusammenbruch erlitten und alle Patienten selbst auf freien Fuß gesetzt hätte. Die Polizei zeigte sich nicht besonders verständnisvoll, schließlich setzte sich mein Vater für die Resozialisierung geisteskranker Krimineller ein. Er glaubte tatsächlich, dass man sie heilen und wieder in die Gesellschaft integrieren könnte. Die Beamten hätten sie lieber auf dem elektrischen Stuhl enden sehen.«

»Und was passierte dann?«, wollte Jack wissen.

»Die Polizei durchkämmte die gesamte Gegend. Doch sie fand keinen einzigen Fußabdruck – nicht einen – geschweige denn irgendein anderes Indiz dafür, dass über hundert Menschen aus The Oaks geflohen waren. Die Polizei traf bereits weniger als eine Stunde nach dem Verschwinden der Patienten ein. Da viele sowohl mit physischen als auch geistigen Beeinträchtigungen zu kämpfen hatten, trugen sie in der Regel lediglich ihre Anstaltskleidung. Einige liefen sogar komplett nackt herum, da sie sich mit Hemden oder Hosen sonst selbst stranguliert hätten. Die Chance, dass sie den Zaun um das Anwesen aus eigener Kraft überwanden, lag bei nahezu null.«

»Aber?«, fragte Jack.

»Aber sie waren weg«, entgegnete Olive Estergomy. »137 Patienten schienen von jetzt auf gleich vom Erdboden verschwunden zu sein.«