»Und Sie haben keine Theorie?«
»Vielleicht hat Gott sie zu sich geholt. Oder auch der Teufel. Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Olive Estergomy.
»Und was hat die Polizei dann unternommen?«, hakte Jack nach.
»Sie konnte nichts tun. Es gab keine Patienten. Es gab keine Spuren. Keiner der Patienten war auf der Straße oder in den Wäldern gesichtet worden oder hatte versucht, per Anhalter zu entkommen. Es gab keine auffälligen Diebstähle in der näheren Umgebung, keine Einbrüche. Rein gar nichts.«
Sie hielt einen Moment inne. Eine hübsche, kleine silberne Standuhr auf dem Kaminsims schlug sechs. »Um 22:30 Uhr am Abend des Verschwindens stattete eine ganze Delegation einflussreicher Persönlichkeiten aus dem Justizministerium der Anstalt einen Besuch ab und inspizierte das Gebäude. Sie sprachen zehn Minuten lang mit meinem Vater und erklärten dann The Oaks offiziell für geschlossen. Nun, natürlich mussten wir ohnehin schließen, denn es waren ja keine Patienten mehr da. Offiziell wurde die Schließung damit begründet, dass die Regierung das Vertrauen in das Resozialisierungsprogramm meines Vaters verloren habe.«
»Und wie erklärten sie das Verschwinden der Patienten? Gegenüber der Öffentlichkeit, meine ich?«
»Sie warteten eine ganze Woche lang ab, ob möglicherweise einzelne Vermisste wieder auftauchten. Als das nicht der Fall war, verkündete das Justizministerium, man habe sie in einen neuen Hochsicherheitstrakt am Lake Nokomis gebracht. Nach sechs Monaten, als weiterhin jede Spur von ihnen fehlte, erzählte man den Angehörigen der Patienten, sofern es noch welche gab und es sie überhaupt interessierte – und glauben Sie mir, das war eher die Ausnahme – dass ihre nicht ganz so lieben Verwandten einer Lebensmittelvergiftung erlegen seien. Ich glaube, dass sie sogar Beerdigungen inszenierten.«
»Sehr verwunderlich!«, befand Helena Manfield.
»Ja, aber was hätten sie sonst tun sollen? Wie sollten sie den Menschen vermitteln, dass sie 137 gemeingefährliche Geistesgestörte aus den Augen verloren hatten und jede Bemühung, sie wiederzufinden, im Sande verlaufen war?«
»Hatten sich die Ermittler der Polizei eine eigene Theorie zurechtgelegt?«, wollte Jack wissen.
»Nein«, antwortete Olive Estergomy. »Soweit ich weiß, haben sie sogar ihre Akten manipuliert, um den Fall komplett unter den Tisch zu kehren. Auch die Fallstudien und weitere Unterlagen meines Vaters wurden seinerzeit konfisziert. Sie können sich vorstellen, was damit passiert ist. Es brach ihm das Herz.«
»Was geschah mit Ihrem Vater?«, erkundigte sich Jack so taktvoll wie möglich.
»Er konnte nicht mehr arbeiten. Nach der Geschichte in The Oaks fand sich kein Bundesstaat mehr, der ihn praktizieren ließ. Wir gingen eine Weile nach England, wo er Geld an Schulen und Universitäten verdiente, dann zogen wir nach Frankreich. Mein Vater ertrank 1934 beim Schwimmen im Meer vor Arromanches. Meine Mutter starb im Jahr darauf.«
»Und Ihre Schwestern?«, fragte Jack.
»Sie blieben in Frankreich und lebten noch immer in der Nähe von Paris, als der Krieg ausbrach. Ich habe nie herausgefunden, was aus ihnen geworden ist.«
Mit sehr leiser Stimme fuhr sie fort: »An dem Abend im Jahr 1926, Mr. Reed, löste sich mein bisheriges Leben vollständig in Luft auf. Nicht nur die 137 Patienten, sondern auch der berufliche Erfolg meines Vaters, die Gesundheit meiner Mutter und meine zwei lieben Schwestern.«
»Es tut mir leid«, sagte Jack unbehaglich. »Es tut mir wirklich leid.«
»Aber Sie suchen Ihren Sohn«, wechselte Olive Estergomy abrupt das Thema.
»Er ist immer noch in The Oaks«, erwiderte Jack. »Deshalb wollte ich mit Ihnen reden.«
»Ich bin mir nicht sicher, wie Sie das meinen.«
»Ich weiß es selbst nicht genau. Doch ich glaube, dass ich weiß, wo er ist, und ich behaupte, auch zu wissen, was mit den Patienten Ihres Vaters geschehen ist.«
Olive Estergomy musterte ihn stirnrunzelnd. »Sie wissen, wohin sie gegangen sind?«
Jack nickte. »Ich habe eine Theorie – na ja, zumindest einige Anhaltspunkte. Sie werden vermutlich glauben, dass bei mir genauso viele Schrauben locker sind wie bei den Patienten Ihres Vaters.«
»Mr. Reed«, begann Olive Estergomy mit unverhohlener Neugier. »Möchten Sie vielleicht einen Drink?«
»Haben Sie Whiskey? Falls nicht: Ein Bier würde mir auch reichen. Und nennen Sie mich bitte Jack.«
»Olive«, sagte Olive Estergomy. »Aber meine Freunde sagen Essie zu mir.«
»Also gut, Essie«, nickte Jack. »Nur eine einzige Frage vorweg. Können Sie mir verraten, warum Sie sich all die Jahre nicht darum bemüht haben, The Oaks zu verkaufen?«
Essie öffnete eine Hausbar aus gebeiztem Eichenholz. »Ich hatte zwei oder drei Angebote«, antwortete sie. »Einmal habe ich sogar inseriert. Aber im Kaufvertrag gibt es eine Klausel, die besagt, dass das Gebäude nicht abgerissen werden darf. Bevor Sie kamen und ihre Idee mit dem Umbau präsentierten, konnte sich niemand dafür erwärmen, die Bausubstanz zu erhalten. Sie wissen selbst, dass es vermutlich Millionen kosten wird, das alte Gemäuer wieder in einen repräsentativen Zustand zu versetzen.«
»Waren Sie jemals wieder dort?«, fragte Jack. »Seit 1926, meine ich.«
»Vor etwa vier Jahren bin ich mal hingefahren, um einen Blick darauf zu werfen. Aber ich bin nicht reingegangen. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, verbinde ich keine allzu angenehmen Erinnerungen damit.«
»Sie sind übrigens immer noch dort«, sagte Jack.
Sie hielt mitten im Whiskey-Einschenken inne. Zwar hatte Olive ihm den Rücken zugewandt, doch an ihrer angespannten Körperhaltung konnte er sehen, dass sie genau verstand, worauf er anspielte. Sie wartete, dass er zu einer näheren Erklärung ansetzte.
»Der Grund, warum niemand die vermeintlich ausgebrochenen Patienten finden konnte, ist, dass sie nie wirklich ausgebrochen sind. Sie sind immer noch dort. Ich habe einige von ihnen gesehen. Sie befinden sich in den Wänden.«
Essie drehte sich zu ihm um und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was meinen Sie damit, dass sie sich in den Wänden befinden?«, erkundigte sich Helena ängstlich. »Wie können sie denn noch da sein? Die ganze Sache ist jetzt über 60 Jahre her und inzwischen müssten die meisten längst an Altersschwäche gestorben sein. Von was sollten sie sich denn in der Zwischenzeit ernährt haben?«
Jack ließ Essie nicht aus den Augen. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sich in ihren Gedanken eine Tragödie abspielte. Mein Vater, meine Mutter, meine armen Schwestern. Und sie sind immer noch dort! Diese schreienden, wütenden Irren mit ihrem Schaum vor dem Mund! Sie sind immer noch dort!
»Ich wusste es«, keuchte sie. Sie zitterte am ganzen Körper. »Irgendwie habe ich es immer gewusst.«
»Aber wie kann das sein?«, erkundigte sich Helena. »Das ist doch unmöglich! In der Wand? In Geheimgängen oder was meinen Sie damit?«
Jack legte eine Hand auf ihren Arm. »Ich weiß nicht, wie sie in die Wand gelangt sind. Ich habe auch keine Ahnung, wie viele von ihnen tatsächlich noch am Leben sind. Aber sie befinden sich nicht in Geheimgängen, sondern leibhaftig in der Wand. Ich weiß, das klingt verrückt und widerspricht sämtlichen physikalischen Regeln und Naturgesetzen. Sie wissen schon, all diese Theoreme über materielle Gegenstände, die sich nicht zur selben Zeit im selben Raum befinden können. Und doch habe ich sie gesehen. Ich habe diese Wahnsinnigen wirklich gesehen. Mein Sohn ist in ihrer Gewalt. Und mich hätten sie auch beinahe erwischt.«
Er bückte sich, schob die Hosenbeine nach oben und zog seine Socken herunter. »Sehen Sie diese blauen Flecken? Einer der Irren kam mitten aus dem Betonboden heraus und attackierte mich.«