Выбрать главу

Essie reichte Jack ein Whiskeyglas. Helena sagte: »Dir macht es doch nichts aus, wenn ich mir einen Gin einschenke, meine Liebe? Ich zittere am ganzen Leib.«

»Nein, nein, mach ruhig«, antwortete Essie geistesabwesend. Dann sah sie Jack an und meinte: »Es ist Wahnsinn, oder? Vollkommener Irrsinn.«

»Ich weiß«, gestand er ihr. »Aber es ist wirklich passiert. Und Sie wissen, dass es wirklich passiert ist, weil Sie dabei waren, als all diese Menschen verschwunden sind, habe ich recht? Was für eine andere Erklärung gäbe es denn dafür?«

»So etwas habe ich noch nie gehört«, stellte Helena fest. »Das kommt mir alles völlig irreal vor.«

»Einer von ihnen heißt Lester«, berichtete Jack.

»Sie haben mit Ihnen geredet?«, staunte Essie.

Jack nickte. »Jedenfalls haben wir miteinander kommuniziert. Ich bin mir nicht sicher, ob man es wirklich reden nennen kann.«

»Lester Franks, so hieß er mit vollem Namen«, erklärte Essie. »Ich erinnere mich sehr gut an Lester. Er wirkte immer so harmlos und normal. Er sang mir oft vor oder erzählte mir Geschichten. Er konnte damals nicht viel älter als 18, vielleicht 19 gewesen sein. Und er war stets äußerst zuvorkommend! Immer dazu bereit, Botengänge zu erledigen, vor denen sich jeder andere drückte! Und jetzt raten Sie mal, weshalb er in der Anstalt war. Als er mit 14 auf seine kleineren Geschwister aufpasste, hackte er seiner dreijährigen Schwester den Kopf ab. Sie fanden ihn, als er damit im Hof Ball spielte, ihn in die Luft warf und wieder auffing. Der ganze Hof war mit Blut besudelt.«

»Oh mein Gott, Essie, mir wird übel!«, keuchte Helena.

»Ach was, die meisten von ihnen hatten noch weitaus mehr auf dem Kerbholz«, konstatierte Essie nüchtern. »Stellt euch vor, als meine Schwestern und ich noch klein waren, ergötzten wir uns an all den unappetitlichen Details. Es gab da einen Mann. Wie hieß er gleich? Holman oder Hofman oder so ähnlich. Er hielt seine Frau für zu geschwätzig, weshalb er sie mit Händen und Füßen an den Esszimmertisch fesselte und ihre Zunge daran festnagelte. Es dauerte etliche Tage, bis man sie dort fand.«

»Essie, ich muss wirklich gleich kotzen«, verkündete Helena wenig damenhaft.

Doch Essie fuhr unbeirrt fort. »Mein Vater versuchte, diesen Holman oder Hofman oder wie auch immer er hieß, zu resozialisieren, indem er ihm den einen oder anderen Auftrag gab. Eines Abends kam er nicht zum Kaffee zurück und sie entdeckten ihn schließlich im Garten. Er konnte sich nicht bewegen, weil er seinen eigenen Penis an einen Baum genagelt hatte.«

»Essie!«

»Tut mir leid, Helena«, sagte Essie. »Aber solche Menschen waren damals eben in The Oaks zu Hause. Sie waren nicht in der Lage, Gefühle für andere zu entwickeln. Sie kannten den Unterschied zwischen Schmerz und Freude nicht. Einige von ihnen machten sich einen Spaß daraus, sich die eigenen Gliedmaßen abzuschneiden und sie als Spielzeuge zu benutzen. Sie waren völlig plemplem, Helena! Du hast ja keine Ahnung!«

»Das ist nicht die Art von Mensch, die dort zu Hause war«, korrigierte Jack, »sondern die Art Mensch, die dort zu Hause ist.«

»Nun, Jack«, sagte Essie. »Ich bin mir nicht sicher, wie ich auf diese Enthüllung reagieren soll. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen kann, wie ich mich damit fühle. Einerseits bin ich überzeugt davon, dass Sie mir die Wahrheit sagen, andererseits erlaubt es mir mein Verstand im Moment noch nicht, diese Geschichte tatsächlich zu glauben.«

»Es gibt etwas, das ich wissen muss«, eröffnete Jack. »Gab es jemals einen Priester, der für The Oaks zuständig war? Oder einen Geistlichen, den die Patienten gekannt haben könnten?«

»Aber ja, sicher doch. Es gab Pater Bell. Er war noch ein ganz junger Priester, doch er kam jeden Sonntag wegen der Patienten nach The Oaks, die die heilige Kommunion feiern wollten. Einige von ihnen waren nämlich religiöse Fanatiker. Einer von ihnen hielt sich sogar für die Reinkarnation Gottes auf Erden. Jedes Mal, wenn Pater Bell sagte ›Lobet den Herrn‹, antwortete er: ›Vielen Dank!‹«

»Wissen Sie, ob der Geistliche noch lebt?«

»Leider nicht. Ich habe ihn nicht mehr gesehen seit jener Nacht, in der die Patienten spurlos verschwanden. Wenn er noch lebt, müsste er bereits auf die 90 zugehen.«

»Er war in dieser Nacht in The Oaks?«

»Ja. Er tauchte plötzlich dort auf. Ich weiß bis heute nicht, wieso.«

»Sie hatten nicht mit ihm gerechnet?«

»Nein, es war ein Montag. Normalerweise kam er immer sonntags zu uns. Oh, ich glaube, einmal auch an einem Samstagnachmittag, um einen Weihnachtsgottesdienst zu zelebrieren. Das war vielleicht ein Desaster! Können Sie sich 150 gemeingefährliche Schizophrene vorstellen, die versuchen, ›Ihr Kinderlein kommet‹ zu singen?«

Jack rang sich ein Lächeln ab. In der gefährlichen Halbwelt, in der die Estergomys in The Oaks gelebt hatten, musste es für sie fast schon lebensnotwendig gewesen sein, sich einen Sinn für Humor zu bewahren.

»Wissen Sie noch, aus welcher Gemeinde Pater Bell kam?«

»Oh ja. St. Ignatius war es, glaube ich, drüben in Portage.«

Jack trank seinen Whiskey aus. »Essie«, sagte er. »es tut mir leid, dass ich in Ihre Privatsphäre eingedrungen bin. Aber Sie verstehen hoffentlich, dass es nur aus reiner Verzweiflung geschah. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«

Essie lächelte. »Ich möchte Sie bitten, mich auf dem Laufenden zu halten, Jack. Und ich bete zu Gott, dass Sie Ihren Sohn zurückbekommen.«

Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Und wenn Sie mit diesen Menschen zu tun haben … den Patienten von damals ... dann seien Sie bloß vorsichtig. Sie wurden nach The Oaks geschickt, weil sie für alle anderen Einrichtungen ein zu großes Risiko darstellten. Ihnen mangelt es an jeglichem Gewissen und manche von ihnen verfügen über ungeheure Kräfte.

Es gab da einen ganz speziellen Insassen, Quintus Miller. Hüten Sie sich vor ihm. Er war unglaublich intelligent, überaus stark und völlig meschugge. Einmal hat er fast eine Patientin umgebracht. Die Details erspare ich Ihnen.«

Jack ging zur Tür und knöpfte seinen Mantel zu.

»Quintus Miller«, wiederholte er. »Lester hat jemanden namens Quintus erwähnt. Alles klar, ich werde aufpassen und Sie anrufen, sobald ich mehr herausgefunden habe.«

Nachdem Jack und Helena gegangen waren, stand Olive Estergomy regungslos mitten in ihrem vollgestopften Wohnzimmer und presste die Hände gegeneinander, als wolle sie beten. Das Gefühl von Furcht, das sie seit rund 60 Jahren nicht mehr verspürt hatte, war wieder zu ihr zurückgekehrt, vertraut und doch eiskalt. Es war eine Furcht, welche die Angst vor dem Tod bei Weitem überstieg. Eine Angst vor immerwährenden, unerträglichen Schmerzen, vor Schreien, Schluchzern und manischem Gelächter.

Es war die Angst vor The Oaks, vor dem völligen Wahnsinn und an allererster Stelle vor Quintus Miller.

S E C H S

Jack fuhr zurück ins Motel, duschte und zog eines der drei neuen Hemden an, die er in Madison gekauft hatte. Er rief in seinem Büro an. Es war bereits nach Geschäftsschluss, doch er ging davon aus, dass Mike Karpasian noch dort sein würde. Laut Mike hatten sie einen Haufen Schalldämpfer auszutauschen. Der Mechaniker fragte ungehalten, wann zum Teufel Jack gedachte, die Schecks für B. F. Goodrich zu unterschreiben, weil B. F. Goodrich sie ganz sicher erst mit neuen Reifen beliefern würde, wenn sie die letzte Rechnung beglichen. Abgesehen davon sei aber alles im grünen Bereich.

Karen war nicht zu Hause. Bessy erklärte Jack, Karen sei mit Sherrywine beim Arzt, weil die Kleine ihre Fischstäbchen mitten auf Mamis kleinen Lieblings-Flokati gekotzt hatte.

Er rief Maggie an. Maggie war stinksauer, weil er sich den ganzen Tag nicht gemeldet hatte und sie Randy am Samstag zu einer speziellen Gala zur Steigerung des Selbstwertgefühls von Frauen mitnehmen wollte. Jack erklärte ihr, dass er nicht besonders viel davon hielt, seinen leicht beeinflussbaren neunjährigen Sohn Zeit mit Lesben, Atomkraftgegnern und Frauen, die nichtsexistische Strickwaren herstellten, verbringen zu lassen. Doch dann musste er plötzlich an die Kackwurst denken und an Randy, dessen Körper aus dem Boden emporstieg. Seine Kehle wurde trocken und er musste den Hörer auflegen, ohne sich zu verabschieden.