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In diesem Moment tauchte ein rundköpfiger Mann in einem öligen Overall auf, der sich die Hände an einem alten Lappen abwischte.

»Hey, was ist mit meinem Kaffee, Pickelgesicht?«, wollte er wissen. Mit einem Blick auf Jack fügte er hastig ein »Guten Tag!« hinzu.

»Ich hab’s vergessen!«, gestand der Junge.

»Er hat’s vergessen!«, wiederholte der Rundköpfige. »Er würde seinen eigenen Arsch vergessen, wenn er nicht zufällig an ihm festgewachsen wäre.«

Der Junge verschwand im Kassenhäuschen. Jack sagte: »Ich bin auf der Suche nach einem Priester, den es mal hier in St. Ignatius gegeben haben soll. Ich frage mich, ob Sie schon mal von Pater Bell gehört haben?«

»Aber sicher«, bestätigte der Rundköpfige ohne Zögern. »Ich kenne Pater Bell.«

»Lebt er noch?«

»Na klar, er wohnt jetzt in Green Bay in einer dieser Seniorenresidenzen. Seine Tochter Hilda ist mit meiner Frau befreundet – sie tauschen regelmäßig Kochrezepte aus.«

»Seine Tochter?«, hakte Jack nach.

»Aber ja. Er hat das Priesterdasein schon lange, bevor ich ihn kennenlernte, aufgegeben, aber trotzdem sprach ihn jeder noch als Pater Bell an. Eine Art Spitzname, wissen Sie? Wenn Sie aus der Armee austreten, nennen Sie die Leute ja auch weiterhin Colonel.«

Der Mann unterbrach seine Unterhaltung mit Jack, um zu brüllen: »Wie lang brauchst du denn noch, um eine verdammte Tasse Kaffee zu machen? Was zum Teufel treibst du denn? Züchtest du die Bohnen erst, oder was?« Er hörte auf, sich die Hände abzuwischen, knüllte den Lappen zusammen und pfefferte ihn mit beeindruckender Zielgenauigkeit in die Mülltonne auf der anderen Seite des Hofes. »Das verdammte Wetter, das bringt einen fast um, oder?«

Jack erkundigte sich zögerlich: »Pater Bells Tochter … können Sie mir sagen, wo sie lebt?«

Der Mann ergriff Jack am Arm. »Sie fahren hier entlang, bis zur nächsten Kreuzung. Da biegen Sie rechts ab. Direkt vor Ihnen befindet sich ein gelbes Haus. Na ja, ich sage aus Höflichkeit ›gelb‹. Sieht eher so aus, als ob einer das Abendessen beim Mexikaner drübergekübelt hätte. Das ist das Haus.«

Der Junge erschien mit einer dampfenden Tasse Kaffee.

»Mein Sohn«, erklärte der Mechaniker. »Was zum Teufel habe ich verbrochen, um so einen Sohn zu bekommen?«

»Ich bin dieses Jahr 88 geworden«, verriet Pater Bell. »Ich wurde am 6. September 1901 geboren, am gleichen Tag, als Präsident McKinley angeschossen wurde. Gestorben ist er natürlich erst acht Tage später.«

Der alte Mann drehte sich vom Fenster weg und blickte Jack aus traurigen, glänzenden Augen an. »Meine Kindheit steht mir bis ins kleinste Detail noch so deutlich vor Augen, als ob ich sie durch ein hell erleuchtetes Fenster betrachten würde. Und doch ist es schon über 80 Jahre her! So lange her und für immer verloren.«

»Ihre Tochter bat mich, Ihnen das hier mitzubringen«, sagte Jack.

Er hielt ein weiches, in rotes Papier eingewickeltes Päckchen hoch.

»Ah, Bettsocken!«, erklärte Pater Bell. »Ach, das ist ja nett von ihr. Sie schickt mir immer kleine Geschenke und bemüht sich, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Ein nettes Mädchen, meine Hilda. Ein gutes, nettes Mädchen. Kennen Sie sie schon lange?«

»Ich habe sie heute zum ersten Mal getroffen«, antwortete Jack.

»Wirklich?«, vergewisserte sich Pater Bell überrascht und fragte dann noch einmal nach: »Wirklich?«

Pater Bell war ein großer und hagerer Mann ohne ein überflüssiges Gramm Fett am Körper. Seine runzlige Haut schien auf seinem Schädel zusammengeschrumpelt zu sein, wodurch seine Augenhöhlen und Wangenknochen tiefschwarz und eingefallen wirkten. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf, doch seine Augenbrauen waren markant und buschig und seine Nase besaß die Form der ausgebreiteten Schwinge einer Fledermaus. Sie war von Adern und Knochen durchzogen.

Er trug einen maulwurfgrauen Rollkragenpullover und eine weite braune Schlaghose, die in den 70er-Jahren sicher einmal hochmodern gewesen war. »Imagine me and you, I do, I think about you day and night …«

»Gestern habe ich mit Miss Olive Estergomy gesprochen«, eröffnete Jack ihm.

»Essie! Wirklich? Das ist aber eine Überraschung! Ich nenne sie Essie, wissen Sie?«

»Ja«, antwortete Jack und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein »Ich auch!« hinzuzufügen. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Essie hat mir verraten, dass Sie früher den Sonntagsgottesdienst in The Oaks abhielten, als es noch eine psychiatrische Anstalt war.«

Pater Bell sagte nichts, doch er betrachtete Jack aufmerksam, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Vor dem Fenster seines schattigen Zimmers fiel der Regen über den Bay Beach Park. Die Bucht verbarg sich hinter einem Schleier aus Sprühnebel.

Das Zimmer war sauber und modern eingerichtet. Ein orangefarbenes Schlafsofa stand darin, außerdem ein Tisch aus Kiefernholz, ein Sessel und ein penibel sortiertes Bücherregal. Aber abgesehen von dem gerahmten Schwarz-Weiß-Foto einer mondgesichtigen Frau, die in einem Haus lebte, das aussah, als hätte jemand sein mexikanisches Abendessen darüber entleert, fanden sich keine persönlichen Besitztümer. Wäre hier um 08:56 Uhr morgens jemand gestorben, hätte um 09:11 Uhr der nächste Bewohner einziehen können.

Auch die Büchersammlung verriet wenig über den Bewohner des Zimmers: alte Bestseller wie Der Holcroft-Vertrag oder Die Unersättlichen. Wenn man in Betracht zog, dass Pater Bell ein ehemaliger Priester war, schien es merkwürdig, dass im Regal keine Bibel stand.

Jack wagte einen Vorstoß: »Essie hat mir auch erzählt, dass Sie in der Nacht dort waren, als die Patienten verschwunden sind.«

Pater Bell atmete ein und aus, ein und aus, als ob es ihn besondere Mühe kostete, das zu tun, um am Leben zu bleiben.

Jack fuhr fort: »Pater Bell – ich weiß, dass ich mich ziemlich anmaßend verhalte. Aber Fakt ist, dass mein Sohn ebenfalls verschwunden ist. In The Oaks.«

Pater Bell drehte den Kopf zur Seite. Quälend lange Sekunden sagte er gar nichts und fuhr sich lediglich mit der Zunge über die Lippen.

»Pater Bell«, sagte Jack. »Ich weiß genau, dass mein Sohn noch dort ist. Und ich brauche Ihre Hilfe, um ihn zurückzubekommen.«

Endlich regte sich Pater Bell in seinem Sessel und verknotete die Hände in seinem Schoß wie zwei bis aufs Skelett abgemagerte Katzen. »Der Vorfall, den Sie da ansprechen, Mr. Reed … er liegt schon sehr lange zurück.«

»Sie sind immer noch da!«, verkündete Jack.

Man konnte erkennen, dass Pater Bell für einen Augenblick überlegte, ob er sich dumm stellen und so tun sollte, als wüsste er nicht, wen Jack mit »sie« gemeint hatte. Doch Jack war so direkt und mit Nachdruck zur Sache gekommen, dass Ausflüchte unmöglich schienen.

»Sie sind noch da?«, wiederholte er ungläubig.

»Sie wissen, was mit ihnen passiert ist, oder?«, fragte Jack. »Sie wissen, wohin sie verschwunden sind.«

»Ja, ich weiß, wohin sie verschwunden sind«, gab Pater Bell zu.

»Möchten Sie es mir erzählen?«

Plötzlich wurde Pater Bell bewusst, was für schreckliche Neuigkeiten er da gerade erfahren hatte. »Sie sind immer noch da drinnen, sagen Sie? Nach all diesen Jahren? Mein Gott … ich hätte nie geglaubt, dass sie das überleben. Sie müssten doch längst verhungert sein. Sie hätten innerhalb weniger Tage sterben sollen. Immer noch da! Mein Gott, immer noch da!«

»Erzählen Sie mir davon!«, insistierte Jack. »Das müssen Sie.«

»Oho, mein Freund, da bin ich mir nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob ich es kann. Wenn sie immer noch dort sind … Der Herr stehe uns bei!«

»Pater Bell, ich muss meinen Sohn retten.«

»Ich bin kein Priester mehr, Mr. Reed. Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen zu helfen.«