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»Mein Sohn gibt mir das Recht.«

Pater Bell entgegnete: »Hören Sie, mein Freund, es tut mir wirklich leid wegen Ihres Jungen. Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kann nichts für Sie tun. Ich bin seit 63 Jahren kein Priester mehr. Und ich habe auch nicht das geringste Interesse daran, zum Märtyrer zu werden.«

»Dass Sie einmal Priester werden wollten, beweist mir jedenfalls, dass Sie anderen Menschen Mitgefühl entgegenbringen.«

»Oh, sicher, und jetzt sehen Sie ja, wohin mich das gebracht hat.«

»Es hat Sie hierher gebracht, Pater Bell. Dorthin, wo Sie damals der Glaube an das Gute im Menschen verlassen hat. Wenn Sie Ihre Lektion lernen möchten, was es bedeutet, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, dann sind Sie genau am richtigen Ort.«

»Halten Sie mir keine Moralpredigt!«, tobte Pater Bell. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe verhindert, dass diese Biester entkommen! Ich kann nichts mehr tun! Sie können wohl kaum noch mehr von mir verlangen! Herrgott im Himmel, das war 1926! Ich war damals erst 25 Jahre alt! Ich habe getan, was ich konnte!«

»Bitte – Sie können wenigstens mit ihnen reden!«, beschwor ihn Jack. Er wusste, dass Pater Bell schreckliche Angst hatte. Er wusste, dass es falsch gewesen war, ihn den ganzen Weg hierher zu bringen. Einen betagten Ex-Priester gegen seinen Willen mitten in der Nacht durch den halben Bundesstaat zu karren, war vermutlich eine Straftat, auf die 20 Jahre Knast standen, wenn das denn reichte; und wahrscheinlich verdiente er die auch.

Doch er war zu müde und zu verzweifelt, um deshalb ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Er wusste nur, dass Lester ihm befohlen hatte, den Priester nach The Oaks zu bringen, weil er Randy sonst genau wie den armen Lovelittle zermalmen würde.

Pater Bell beugte sich in seinem Sitz nach vorne und spähte durch das Dunkel in Richtung des Anwesens. »Ich kann nichts erkennen. Die Bäume müssen inzwischen ziemlich gewachsen sein.«

»Ich glaube nicht, dass sich viel verändert hat«, erwiderte Jack. Er öffnete seine Tür. »Kommen Sie mit?«

»Bleibt mir denn eine andere Wahl?«

Jack beugte sich ins Auto. »Sie sind hier, Pater Bell. Sie können das, was Sie damals begonnen haben, zu Ende bringen. Zumindest können Sie es versuchen.«

Pater Bell hockte auf dem Beifahrersitz wie ein Häufchen Elend und wirkte äußerst zerbrechlich und müde. Seine Haut hatte eine gelbliche Färbung angenommen. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mr. Reed, ich bin nicht sicher, ob ich die Kraft dazu habe.«

»Werden Sie mit ihnen reden? Mehr verlange ich nicht von Ihnen. Wenn außer Ihnen niemand den Bannkreis um das Haus entweihen kann, worüber machen Sie sich dann Sorgen? Sie befinden sich in einer Machtposition.«

»Ich weiß nicht.« Pater Bell zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Quintus Miller noch einmal begegnen möchte … nicht nach all den Jahren.«

Jack lief um den Kombi herum und öffnete die Tür. »Kommen Sie, Bill Bell. Tun wir ihnen etwas an, bevor sie uns etwas antun.«

Pater Bell zögerte einen Moment, doch dann schwang er seine Beine aus dem Electra und stützte sich auf Jack, der ihm beim Aussteigen behilflich war.

»Was für eine schreckliche Nacht!«, bemerkte er.

Die beiden liefen gemeinsam über die mit Schotter bedeckte Einfahrt. Pater Bell lehnte sich gegen Jack. Es wehte ein starker Wind und der Regen peitschte fast horizontal in die Dunkelheit hinein, wie eine eisige Heuschreckenplage. Jack hatte neue Batterien für seine Maglite besorgt und leuchtete mit ihrem Strahl mal hierhin, mal dorthin, um Pater Bell einen näheren Blick auf das Gebäude zu gestatten, um das er seit über 60 Jahren einen großen Bogen machte.

»Es ist alles ein wenig heruntergekommen«, bemerkte Pater Bell. »Aber abgesehen davon könnte ich nicht behaupten, dass es sich großartig verändert hat. Es sieht gleich aus, es riecht sogar gleich. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich diesen Ort hasse.«

»Sie genauso wie ich inzwischen«, antwortete Jack.

Jack führte den früheren Geistlichen um das Gebäude herum bis zum Gewächshaus. Er öffnete die Tür und sie traten ein. Pater Bell spähte in der Finsternis umher.

»Alles kaputt«, stellte er fest, während er die zerbrochenen Blumentöpfe und die vertrockneten Pflanzen inspizierte. »Sie hätten es damals sehen sollen! Jede Art von tropischer Pflanze, die sie sich vorstellen können! Und Trauben wuchsen hier auch!«

»Kommen Sie!«, drängte Jack und lotste ihn in die Lounge.

Pater Bell zögerte, hielt an und sah sich um.

»Ich kann es nicht glauben. Es hat sich nichts verändert. Man hat es nicht mal angerührt. Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, in ein Haus zurückzukehren, in dem Sie vor 60 Jahren ein und aus gingen, und festzustellen, dass es darin noch genauso aussieht wie an dem Tag, an dem Sie es verlassen haben? Das ist beunruhigend!«

Sie gingen durch die Halle. Jack leuchtete mit seiner Taschenlampe kurz die beiden Marmorstatuen an, doch sie waren so blind wie die Gerechtigkeit. Ihre eigenen Schritte knirschten auf dem dreckigen Marmorboden. Über ihren Köpfen knarzte der riesige eiserne Leuchter im frühen Morgenwind, der teilweise ins Innere des Hauses drang.

Plötzlich lief es Pater Bell eiskalt über den Rücken, und zwar nicht nur aufgrund der frostigen Temperaturen im Gebäude. »Wissen Sie, was für eine Nacht es war, in der sie alle entkamen? Der 21. Juni, Mittsommernacht. Das fiel mir erst einige Jahre später auf. Das ist die Zeit, in der die Erdkräfte am stärksten wirken. Sommersonnenwende. Ein besonderer Abschnitt des Jahres für die Druiden. Eine Phase, in der die Leylinien zum Leben erwachen und eins mit der Welt werden.«

»Ich repariere Schalldämpfer«, verriet Jack, um seinem Begleiter zu verdeutlichen, dass sein Vorstellungsvermögen relativ begrenzt war, wenn es um Magie ging.

»Aber sicher«, sagte Pater Bell. »Und ich verbringe meine Zeit damit, aus einem Fenster in Green Bay zu starren. Doch nur weil ich und Sie, mein Freund, eher praktisch und pragmatisch veranlagt sind, kommt die Sommersonnenwende trotzdem, denn die Elemente lassen sich von uns nicht beeinflussen. Erde, Feuer, Wasser und Luft. Und das fünfte Element, das sie alle in sich vereint – die Quintessenz.«

Sie kamen in der Mitte der Halle zum Stehen. Im Haus war es dunkel und totenstill. Doch Jack wusste jetzt, dass es sich um ungleich mehr als nur um ein Gebäude handelte. Es war vielmehr ein mystisches Labyrinth, erbaut an einem der magischsten Orte des ganzen Landes – einem Ort, der vermutlich damals, als Kelten, Wikinger und die alten Ägypter Amerika erforschten, eine unglaublich große Bedeutung besessen hatte. Jack verspürte eine Angst, die ihm völlig fremdartig erschien.

»Sie haben recht, sie sind hier«, flüsterte Pater Bell. »Ich kann sie fühlen.«

»Ich frage mich, ob sie umgekehrt auch wissen, dass wir hier sind?«, meinte Jack, während er den Kegel der Taschenlampe auf die Kellertür lenkte. Sie stand leicht offen.

Pater Bell bekreuzigte sich und rezitierte: »Crux sacra sit mihi lux; non draco sit mihi dux; vade retro, Satana; numquam suade mihi vana; ipse venena bibas.«

Jack sah ihn erstaunt an. »Sie haben offenbar nichts verlernt.«

»Es ist nichts, was man vergisst, nur weil man den Beruf an den Nagel hängt.«

Die Kellertür knarrte leise. Jack versuchte zu erkennen, ob sich dort etwas in der Dunkelheit versteckt hielt.

»Vielleicht sollte ich sie besser rufen«, schlug er vor.

Pater Bells Lippen wurden schmal, doch er sagte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen und mit alten Erinnerungen und Ängsten auseinanderzusetzen.

»Was meinen Sie?«, hakte Jack nach. »Soll ich nach ihnen rufen?«

Pater Bell nickte.

»Lester!«, schrie Jack. »Lester, bist du da?«

Seine Stimme hallte über die Treppe in den ersten Stock. Er wartete, doch es erfolgte keine Reaktion. Nicht die geringste Regung; keine Augen, die sich öffneten; keine schleifenden Geräusche.